LGBTQ 2020: «Ehe für alle» ist da, aber reicht nicht
2020 war für die LGBTQ-Gemeinschaft ein politisch aufregendes Jahr. Doch es gibt fast überall noch Baustellen, so Vertreter aus LGBTQ-Organisationen.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Jahr 2020 war für die LGBTQ-Gemeinschaft voller Siege – und Niederlagen.
- Trotz grosser Schritte gibt es aber noch viel Arbeit zu verrichten, so Experten.
- Nau.ch hat mit einer LGBTQ-Aktivistin und einem Trans-Rechtsberater gesprochen.
Lassen wir das Jahr 2020 durch eine Regenbogenlinse Revue passieren: Im Februar stimmte die Schweiz über eine Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm ab. Sie wurde angenommen; seither ist es in der Schweiz illegal, jemanden aufgrund ihrer oder seiner sexuellen Orientierung zu diskriminieren.
Dann wurde im Dezember die «Ehe für alle» im Parlament gutgeheissen. Künftig sollen gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz heiraten dürfen. Und im selben Monat stimmte das Parlament ebenfalls für eine Erleichterung der Geschlechtsänderung auf dem Zivilstandsamt. Dies macht es transidentitären Personen einfacher, ihren Namen und ihr Geschlecht im Register zu ändern.
Das tönt erstmal beeindruckend für ein Land, welches diesbezüglich im internationalen Vergleich oft einige Jahre im Rückstand ist. Für Expertin Muriel Waeger gibt es aber noch viele Baustellen.
«Ehe für alle» noch verbesserungsbedürftig
Waeger ist Geschäftsleiterin von Pink Cross (Schwulenorganisation) und LOS (Lesbenorganisation) in der Romandie. Dass die «Ehe für alle» endlich durchkam, sei natürlich erfreulich. Aber: «Ein grosses zukünftiges Ziel von Pink Cross und LOS ist dieselbe ‹Ehe für alle›.»
Denn: Im Moment seien gleichgeschlechtliche Ehepaare in einem Recht benachteiligt, nämlich in der «originären Elternschaft». Zum Beispiel habe ein lesbisches Paar, welches sich ein Kind wünscht, eine Hürde mehr zu überwinden als ein heterosexuelles Paar. Die Ehefrau, welche nicht zur Zeugung des Kindes beigetragen hat, gilt nur als «Mutter», wenn die Samenspende aus dem Inland stammt.
Der Gesetzesänderung droht von rechts ein überparteiliches Referendum, zustande kommen wird es jedoch kaum. Laut einer Umfrage des Instituts gfs.bern befürworten 82 Prozent der Schweizer Bevölkerung die gleichgeschlechtliche Ehe.
«Grösste Baustelle bei Polizeibeamten»
Auch in anderen Bereichen sei die Gleichstellung von LGBTQ-Personen noch nicht gewährleistet. «Zum Beispiel im Arbeitsrecht», so Waeger. «Die sexuelle Orientierung ist immer noch nicht im Gleichstellungsgesetz niedergeschrieben.» Personen könnten also aufgrund dessen entlassen werden.
«Die grössten Baustellen sehen wir aber bei der Ausbildung von Polizeibeamten oder Lehrpersonen», so Waeger weiter. In diesen Berufen bedürfe es einer gewissen Sensibilisierung für LGBTQ-Menschen: «Zum Beispiel für die Polizei beim Umgang mit Hassverbrechen.»
«Harte Niederlage» für Transmenschen
Mit dem Gesetz für die Erleichterung der Geschlechtsänderung gibt sich auch der Transgender Network (TGNS) nicht zufrieden. Es sei zwar «sicher der wichtigste Erfolg» im 2020, beinhalte aber eine harte Niederlage, erklärt Alecs Recher, Leiter der Rechtsberatung bei TGNS.
Bis zum Alter von 16 Jahren benötigen Transmenschen die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertretung für eine Änderung. Dieser Teil des Gesetzes verschlechtere die Situation von Jugendlichen massiv, so die Intersex- und Transorganisationen InterAction und TGNS.
Weiter warten transidentitäre Personen auf die Einführung eines dritten Geschlechts im amtlichen Bereich. Dennoch verweist Recher auf einen kleinen Erfolg, eine Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission für Humanmedizin. Diese empfiehlt dem Bund sogar zu prüfen, gänzlich auf die amtliche Registrierung des Geschlechts zu verzichten.