Linke und Grüne hegen mehr negative Gefühle gegen Andersdenkende
Gemäss einer neuen Studie in zehn EU-Staaten hegen Linke und Grüne mehr negative Gefühle gegenüber Andersdenkenden. Auch hierzulande? Ein Politologe ordnet ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Europaweit empfinden Linke und Grüne deutlich mehr negative Gefühle für Andersdenkende.
- Deutschland bildet eine Ausnahme: AfD-Wähler sind noch stärker polarisiert, als Grüne.
- Politologe Claude Longchamp ist überzeugt: In der Schweiz dürfte es ähnlich aussehen.
Die linke Seite des politischen Spektrums versteht sich selbst als Bastion von Fortschritt, Gleichheit und Toleranz. Politikerinnen und Politiker links der Mitte kämpfen für eine mitfühlende, gerechte Gesellschaft für alle – so die plakatierten Devisen.
Die «Studie zur Polarisierung in Deutschland und Europa» fördert allerdings Bemerkenswertes zutage: Linke und Grüne in Europa empfinden deutlich mehr emotionale Ablehnung gegenüber Andersdenkenden, als ihre Kontrahenten rechts der Mitte.
Wenn politische Gegner zu Feinden werden
Die Studie wurde vom «Mercator Forum für Migration und Demokratie» (MIDEM) an der Technischen Universität Dresden durchgeführt. Die Ergebnisse basieren auf der Analyse einer Befragung von mehr als 20'000 Personen in zehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Im Rahmen der Studie wurde versucht, das themenbezogene Ausmass der sogenannten «affektiven Polarisierung» zu ermitteln: Der Begriff umschreibt die Intensität, mit welcher sich Personen in wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen mit emotionaler Ablehnung begegnen. Demnach liegen die Ursprünge der Polarisierung nicht in umstrittenen Sachfragen, sondern in einer gefühlsbetonten Selbst- und Fremdwahrnehmung vonseiten der Wählerschaft.
Im Interesse der Untersuchung stand demnach die Frage, ob divergierende Ansichten zu Sachthemen mit gegenseitiger Entfremdung einhergehen. Die Studienautoren sind überzeugt: «Erst wenn aus politischen Gegnern Feinde werden, erreicht gesellschaftliche Polarisierung ihr demokratiegefährdendes Potenzial.»
Politologe Claude Longchamp ordnet ein
Doch was bedeutet diese Erkenntnis – weshalb haben ausgerechnet Linke und Grüne scheinbar wenig Toleranz für Andersdenkende übrig? Behalten die Resultate aus den EU-Staaten auch für die Schweiz ihre Aussagekraft?
Politikwissenschaftler Claude Longchamp ordnet ein: «Affektive Polarisierung ist ein Konzept, welches aus der US-Sozialforschung stammt.» Zunächst zeige die Studie, dass die affektive Polarisierung in Europa allgemein auf tiefem Niveau verharrt. «In Europa gibt es nur zwei Länder mit einem sehr hohen Grad an affektiver Polarisierung – Italien und Griechenland.»
Dies sei keineswegs eine Überraschung, erklärt der Experte: «Italien und Griechenland sind zwei Länder mit einer temperamentvollen politischen Kultur. Beide Staaten sind durch Migrationsfragen wirtschaftlich geschüttelt und aufgrund des Klimawandels stark herausgefordert. In Tschechien und den Niederlanden findet sich davon kaum etwas.»
Keine Verallgemeinerungen
Auch aus eidgenössischer Perspektive seien die Resultate richtungsweisend. «Die Polarisierung ist bei ökologisch ausgerichteten Personen am höchsten. Das spricht dafür, dass die neue Art der Polarisierung von aktuellen Konflikten ausgeht.»
Gleichzeitig warnt der Politologe vor Verallgemeinerungen: Die Schweiz sei bei der Erhebung nicht berücksichtigt worden und mit Deutschland befinde sich unserer wichtigster Nachbar im Mittelfeld.
Die Spezialauswertung der Daten aus Deutschland zeige überdies auf, dass die Polarisierung in Deutschland genau umgekehrt verlaufe. Dort weisen Wählende der AfD die höchste Polarisierung auf – noch höher, als diejenige der Grünen oder der SPD.
Schweiz wohl mit Deutschland vergleichbar
«Deshalb würde ich keine direkten Rückschlüsse auf die Schweiz ziehen», erklärt Longchamp. Die Eidgenossenschaft gehöre – mit Ausnahme des Tessins – sicherlich nicht zum Typ der ganz stark affektiv polarisierten Länder.
«Wir sind eher mit Deutschland vergleichbar – im Mittelfeld und mit rechter Polarisierung. Die Höchstwerte vermute ich bei der SVP und bei den Grünen», so der Experte.
Gleichzeitig betont Longchamp, dass Themen wie Klimawandel, Migration, Gleichstellung und sexuelle Orientierung auch hierzulande am stärksten polarisieren. Überdies gehe die Polarisierung auch in der Schweiz massgeblich von den urbanen Regionen und den oberen Bildungsschichten aus.
Lebhafter Diskurs ist begrüssenswert
In der Schweiz dürfte die politische Polarisierung folglich bei der Wählerschaft der Polparteien SVP, Grüne und SP am grössten sein. Worin dieses Phänomen seinen Ursprung findet, ist allerdings nicht abschliessend geklärt. Die Studienautoren führen den medialen Diskurs, politische Konfrontationen und eine starke Überzeugung, recht zu haben, als mögliche Gründe auf.
Grundsätzlich sei ein lebhafter gesellschaftlicher Diskurs zwar zu begrüssen, so die Forschenden. Gefährlich werde es hingegen, wenn die politische Meinung zu einem integralen Bestandteil der eigenen Identität werde.