Öl-Boykott: Balthasar Glättli will Tempo 80 & kühlere Wohnungen
Die EU will kein russisches Öl mehr. Das werde auch die Schweiz spüren, sagt Grünen-Chef Balthasar Glättli. Sein Rezept: Weniger heizen und langsamer fahren.
Das Wichtigste in Kürze
- Die EU möchte wegen des Angriffs auf die Ukraine russisches Öl boykottieren.
- Die Schweiz sollte das auch tun, sagt Balthasar Glättli im Interview.
- Der Grünen-Chef will zudem den Verbrauch von Gas mit drastischen Massnahmen senken.
Die EU-Kommission macht ihre Ankündigung wahr. Präsidentin Ursula von der Leyen erklärt, dass sie einen Boykott für russisches Öl vorschlägt. Zwar gilt eine Übergangsfrist, doch Europa und die Schweiz dürften die Konsequenzen dieses Entscheids im Winter spüren.
Im Interview lobt Grünen-Präsident Balthasar Glättli die Offensive Brüssels und kritisiert den Bundesrat. Er plädiert dafür, auch den Gasverbrauch in der Schweiz zu reduzieren. So sollen wir im Winter etwa weniger heizen, langsamer fahren und mehr Homeoffice machen.
Nau.ch: Herr Glättli, es zeichnet sich ein Öl-Boykott der EU gegen Russland an. Sind Sie nun zufrieden?
Balthasar Glättli: Die EU hat in den letzten Monaten alles unternommen, damit ein Öl-Embargo für sie möglich und wirtschaftlich tragbar wird. Die Schweiz hingegen konnte sich nicht dazu durchringen, beim Rohstoffhandel Sanktionen zu ergreifen. Im Finanzbereich ging es lange – und die Konsequenz in der Umsetzung fehlt bis heute.
Dabei sind die politischen Hürden in der EU mit dem Konsensprinzip der Mitgliedsländer weit höher als in der Schweiz, wo der Bund allein entscheiden kann! Der Bundesrat brilliert durch halbherzigen Nachvollzug.
Nau.ch: Problematischer für die Schweiz wäre gemäss Guy Parmelin ein Gas-Boykott, da wir hier von Russland abhängig sind.
Balthasar Glättli: Auch hier: Die EU hat sich um alternative Quellen bemüht. Der Bundesrat dagegen erklärt, warum er nichts tut. Zur Versorgungssicherheit gehört nicht nur, dass ausreichend Gas zur Verfügung steht, sondern auch, dass es nicht verschwendet wird. Wir müssen den Verbrauch sofort senken. Und sofort eine Offensive zum Ersatz von Gasheizungen einleiten.
Nau.ch: Wären Sie bereit, im Winter quasi für den Frieden zu frieren?
Balthasar Glättli: Gerade im Winter sind Räume oft sogar überheizt. Frieren soll niemand. Aber 1 bis 2 Grad weniger würden das Raumklima verbessern. Pro Grad weniger können 6 bis 7 Prozent Energie und damit auch Heizkosten eingespart werden.
Rund ein Fünftel der Wohngebäude in der Schweiz wird mit Gas geheizt. Würden sie alle 2 Grad weniger heizen, müssten wir 12 bis 14 Prozent weniger Gas importieren.
Nau.ch: Welche Massnahmen könnten sonst helfen? Greenpeace brachte Homeoffice ins Spiel.
Balthasar Glättli: Wir haben es in der Hand. Zwei Tage Homeoffice, dort wo das in der Pandemie möglich war, ist kein Problem. Andere können statt mit dem Auto mit dem Velo oder ÖV zur Arbeit fahren. Wenn der Bundesrat Tempo 80 auf Autostrassen und Autobahnen verfügt während der Krise, dann sinkt der Benzin- und Dieselverbrauch der ganzen Autoflotte um fünf bis sieben Prozent.
Zudem muss der Staat Private und Unternehmen aktiv über ihr Sparpotenzial informieren. In Genf gibt es beispielsweise das Programm eco21, bei dem Energieberaterinnen und -berater Haushalte und Unternehmen besuchen und mit ihnen individuell schauen, welche Einsparmöglichkeiten es gibt. Das sind dann sozusagen Lifehacks fürs Energie- und Geldsparen.
Nau.ch: Es mag zynisch klingen, aber: Halten Sie es für möglich, dass der Ukraine-Krieg die Energiewende so wirklich einläutet?
Balthasar Glättli: Dieser Krieg ist vorab eine Katastrophe für Millionen von Menschen in der Ukraine. Und wegen der explodierenden Nahrungsmittelpreise auch für die Ärmsten an vielen Orten der Welt.
Aber Sie sagen richtig: Der Ukraine-Krieg macht allen klar, dass die Abhängigkeit von fossilen Energien rasch überwunden werden muss. Wir sehen jetzt, dass uns die Abhängigkeit von fossilen Energien teuer zu stehen kommt. Erneuerbare Energien dagegen sind Freiheitsenergien. Übrigens ist einer der begrenzendsten Faktoren, warum wir heute nicht rascher den Ausstieg realisieren können, der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften.
Positiv formuliert: Eine ambitionierte Klimapolitik schafft massiv neue Arbeitsplätze mit Zukunft – packen wir diese Chance mit einer Aus- und Weiterbildungsoffensive. Das ist auch ein Teil des Klimafonds für einen Green New Deal, den die Grünen zusammen mit der SP mit einem Initiativprojekt verankern wollen.
Nau.ch: Zuerst kommt nun aber nicht die Energiewende, sondern massiv höhere Energiepreise. Das ist doch unsozial!
Balthasar Glättli: Die höheren Energiepreise treffen nicht alle gleich. Wer fossilfrei wohnt und unterwegs ist, ist jetzt im Vorteil. Die meisten können sich zudem die höheren Preise gut leisten oder den Verbrauch senken: etwas weniger Auto fahren, etwas weniger heizen und mittelfristig auf fossilfreie Alternativen wechseln.
Es gibt aber auch jene, für die ein solcher Wechsel nicht infrage kommt, weil sie in einer Mietwohnung wohnen, ein tiefes Einkommen haben und einen wesentlichen Teil ihres Budgets – mehr als zehn Prozent - für Energie ausgeben. Diesen Menschen soll der Staat ganz gezielt helfen.
Nau.ch: Aber wir haben hier eine historisch einmalige Situation, darauf konnte ja niemand vorbereitet sein!
Balthasar Glättli: Den Ukraine-Krieg haben tatsächlich haben auch Fachpersonen nicht vorausgesehen. Dass aber fossile Energien massive Preisschwankungen kennen, ist überhaupt nicht neu! Der Ölpreis war schon 2008 und von 2011 bis 2014 klar höher als die letzten Wochen. Leider haben zu viele dennoch weiter an der veralteten fossilen Technologien festgehalten!