«Pseudo-Exaktheit»? Coronavirus Zahlen sinken, R-Wert steigt
Das Wichtigste in Kürze
- Das BAG meldet über 400 Infektionen weniger als vergangenen Mittwoch – bei mehr Tests.
- Der R-Wert steigt dennoch stetig an, was offensichtlich selbst BAG-Mann Mathys verwirrt.
- Die Taskforce erklärt, wie diese matchentscheidende Zahl wirklich berechnet wird.
Seit Wochen befindet sich die Schweiz im Lockdown. Bis wann Beizen geschlossen und das Privatleben der Bürger eingeschränkt bleiben, ist unklar. Entscheidend dafür ist die Entwicklung der Fallzahlen des Coronavirus und der Reproduktionszahl R.
Immerhin hier gibt es einen Silberstreifen am Horizont. Seit geraumer Zeit meldet das BAG im Schnitt weniger als 2000 Neuinfektionen pro Tag. Das ist im Vergleich zum Höhepunkt der Pandemie ein Rückgang um etwa 80 Prozent.
Am Mittwoch meldete das BAG 1796 neue Ansteckungen mit dem Coronavirus. In der Vorwoche waren es noch 2222. Gleichzeitig sinkt auch die Positivitätsrate (heute 5,8 Prozent, Vorwoche 8,2 Prozent) rapide. Doch Grund zum Jubeln ist das offenbar nicht.
Denn: Erstmals seit dem 3. Dezember meldet das BAG mit 1,01 wieder einen R-Wert von mehr als 1. «Ist die Zahl grösser als 1, breitet sich das Virus verstärkt aus», heisst es auf der Webseite der Behörde.
R-Wert steigt, Fallzahlen des Coronavirus nicht
Diese Zahl ist für den Bundesrat matchentscheidend, wenn er über Schliessungen ganzer Branchen entscheidet. Der R-Wert gibt an, «wie viele Personen eine infizierte Person unter den aktuellen Bedingungen im Durchschnitt ansteckt», so das BAG. Dabei bildet er die Infektionslage für die Schweiz von vor 10 bis 13 Tagen ab.
Der aktuellste R-Wert (1,01) bezieht sich konkret auf den 22. Januar. Auch die drei vorangehenden Tage lag R gemäss heutiger Einschätzung bei 1 oder darüber. Das BAG selbst meldete allerdings für die Woche vom 18. bis 24. Januar «nur» 13'512 Neuansteckungen im Vergleich zu über 15'000 in der Vorwoche.
Diese zumindest scheinbare Diskrepanz zwischen Fallzahlen und R-Wert macht viele stutzig. Politiker wie Nationalrat Marcel Dobler (FDP) runzeln die Stirn, die Twitter-Follower des BAG verstehen die Welt nicht mehr.
Nau.ch wollte von der Behörde wissen, wie sich dies erklären lässt. Doch das BAG selbst will keine Fragen zum R-Wert des Coronavirus beantworten. Die Kommunikationsabteilung verweist an die wissenschaftliche Covid-19-Taskforce. Diese meldet sich bereits nach kurzer Zeit.
Jacques Fellay, Taskforce-Experte und Professor an der EPFL, sagt auf die Phase vom 19. bis 21. Januar angesprochen: «Im angegebenen Zeitraum blieb die geschätzte Anzahl der Neuinfektion in etwa konstant, was konsistent ist mit einem Re Wert von etwa 1.»
BAG-Mathys spricht von «Pseudo-Exaktheit»
Die praktisch gleiche Frage wurde an der Pressekonferenz von Alain Berset ebenfalls gestellt. Die Frage sei «sehr gut», meinte der Bundesrat. Während das BAG offiziell schweigt, äusserte sich dessen Krisenmanager Patrick Mathys ausführlich. Seine Erläuterungen finden Sie im Video.
Der BAG-Topmann kam zum Schluss: Auch die aktuellen Fallzahlen des Coronavirus würden das Infektionsgeschehen vor 10 Tagen abbilden. Insofern müssten die Infektionszahlen in den nächsten Tagen stagnieren oder gar zunehmen – was sie aber aktuell (noch) nicht machen.
Nach einer Intervention des Gesundheitsministers, der auf Intervalle hinweist, sagt Mathys: «Ja, dieses 1.01, das ist eine Pseudo-Exaktheit.» Fakt ist: Das BAG gibt für die ETH-Berechnungen aktuell einen Bereich von 0.86 bis 1.13 an, in welchem der R-Wert tatsächlich liegen könnte.
Was halten Sie von der Reproduktionszahl?
Taskforce-Experte Fellay sagt: «Es gibt Schwankungen in den Re-Werten wenn Sie an verschiedenen Tagen geschätzt werden. Grund dafür ist die Verfügbarkeit von mehr Daten sowie Nachmeldungen.»
«Poisson-Prozess»: Das sagt der Taskforce-Experte
Unbestritten ist, dass die Berechnung des R-Wert sehr kompliziert ist. Darauf wies am Mittwoch auch Alain Berset höchstpersönlich hin. Unabhängig davon wollte Nau.ch von der Taskforce wissen, ob und welche weitere Faktoren neben den Fallzahlen einbezogen werden.
Aufgrund der Komplexität und der Transparenz willen wird hier die entsprechende Antwort der Taskforce in voller Länge publiziert.
Den Link zur nicht ganz einfachen Methodik auf der Website der ETH finden Sie hier.
Hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer dürften die Veränderungen des R-Werts in den nächsten Tagen mit Argus-Augen verfolgen. Denn die an sich simple Zahl entscheidet massgebend mit, ab wann ein Feierabend-Bier oder ein Treffen mit der Familie wieder möglich sind.
Bundesrat Berset machte zwar bereits klar, dass Lockerungen auf Anfang März «unrealistisch» seien. Dazu müssten die Fallzahlen des Coronavirus weiter sinken. Und nachgelagert hoffentlich auch die verflixte Reproduktionszahl.