Formel E: Wer kann den neuen WM-Leader Cassidy noch aufhalten?
Nick Cassidy hat mit seinem Sieg beim Monaco-ePrix die WM-Führung in der Formel E übernommen. Der Neuseeländer macht sich zum grossen Titel-Favoriten.
Das Wichtigste in Kürze
- Nick Cassidy feiert in der Formel E seinen zweiten Rennsieg in Folge.
- Der Neuseeländer übernimmt die WM-Führung deutlich vor Pascal Wehrlein.
- Nächste Station ist der Double-Header in Jakarta (Indonesien) am 3. und 4. Juni.
Die Formel E zeigt in Monaco, dass spannende Rennen auch auf dem Traditionskurs im Fürstentum möglich sind. Mit unfassbaren 116 Überholmanövern sehen die Fans einen Spektakel-ePrix. Mit Nick Cassidy ist der Rennsieger auch der neue WM-Leader.
Motorsport-Insiderin Carla Welti und Nau.ch-Experte Mathias Kainz besprechen die aktuellen Themen und blicken auf den packenden Titelkampf voraus.
Nau.ch: Nick Cassidy ist in Über-Form und hat mit seinem Monaco-Sieg die WM-Führung in der Formel E übernommen. Wer sind eure Kandidaten, um ihn noch abzufangen?
Carla Welti: Vor Monaco hätte ich gesagt, dass die einzigen, die jetzt noch dazu in der Lage sind, die anderen Jaguar-Fahrer wären. Doch nach Monaco sieht das ganz anders aus – wegen des fahrerischen Könnens von Jean-Éric Vergne. Ich könnte mir vorstellen, dass der Kampf um den Gesamtsieg zwischen ihm und den Jaguar-Fahrern stattfinden wird. Die Leistung dazu ist vorhanden, sowohl von JEV als auch von seinem Fahrzeug.
Mathias Kainz: Auch, wenn ich dir zustimme, dass Vergne sensationell unterwegs war – der Titelkampf ist zu weit weg für ihn. In der aktuellen Form sehe ich in der Formel E vier ernsthafte WM-Kandidaten. Nick Cassidy ist der klare Favorit, aber Mitch Evans ist formstark, und Pascal Wehrlein bleibt in Schlagdistanz. Und dann ist da noch Jake Dennis, der unspektakulär, aber verlässlich Punkte sammelt.
Hat Porsche in der Formel E so stark abgebaut?
Nau.ch: Für Porsche war es ein Samstag zum Vergessen – WM-Führung in beiden Wertungen weg. Wie erklärt ihr euch den Leistungsabfall?
Mathias Kainz: Ich bin mir gar nicht sicher, ob es tatsächlich ein Leistungsabfall ist, oder einfach eine unglückliche Formkurve. Porsche hatte Auto und Reifen zu Saisonbeginn am besten im Griff. Vor allem Pascal Wehrlein hat seine Chancen zum WM-Beginn maximiert – genau daran hakt es jetzt. Vielleicht haben sich Jaguar und Envision mehr gesteigert, als Porsche abgebaut hat – oder wie siehst du das?
Carla Welti: Das ist schwierig von aussen zu bewerten. Haben sie vielleicht ein neues Problem am Fahrzeug, dass die Fahrer davon abhält, volle Leistung zu zeigen? Sind die Fahrer unkonzentriert, haben sie das Vertrauen verloren? Was auch immer es ist, sie müssen es schnell beheben – Jaguar scheint den ultimativen Switch gefunden zu haben.
Ticktum-Crash sorgt für Debatten in der Formel E
Nau.ch: Ein Aufreger am Samstag war die Kollision zwischen Dan Ticktum und Maxi Günther. Findet ihr es vertretbar, dass Ticktum nicht bestraft wurde?
Carla Welti: Man kann diese Situation von zwei Seiten betrachten. Von Ticktums kaputtem Frontflügel hin ein Teil auf seinem Rad, was das Handling des Fahrzeugs beeinträchtigt hat. Es kann also gut sein, dass die Berührung aufgrund dessen zustande kam.
Anderseits hätte er mit dieser unkontrollierbaren Situation respektvoller umgehen müssen, um solch eine Kollision zu verhindern. Es ist die Aufgabe der Fahrer zu gewinnen, aber dabei keine anderen in Gefahr zu bringen. Meiner Meinung nach hat er dies nicht eingehalten.
Mathias Kainz: Dan Ticktum ist für mich einer dieser Fahrer, die sich mit ihrer Mentalität ständig selbst im Weg stehen. Er hat eine richtig starke Pace, aber er setzt sie nicht in Resultate um. Und leider, das hat die Vergangenheit gezeigt, ist er auch bei harten Strafen nicht gerade lernfähig. Selbst eine zweijährige Rennsperre früh in seiner Karriere hat ihm nicht geholfen, seinen Hitzkopf etwas abzukühlen.
Was kann die Formel 1 von der Formel E lernen?
Nau.ch: Einen Blick zu den positiven News: Anders als die Formel 1 sorgt die Formel E sogar in Monaco für packende Rennen. Was könnte sich die Königsklasse da abschauen?
Mathias Kainz: Die Formel E hat eindrucksvoll gezeigt, dass man in Monaco überholen und ein tolles Rennen zeigen kann. Und es zeigt die – wortwörtlich – grösste Schwäche der modernen Formel 1 auf: Die Autos in der Motorsport-Königsklasse sind schlicht zu lang und zu breit. Die Gen3-Autos sind 30 Zentimeter schmaler und einen halben Meter kürzer – da müsste die Formel 1 auch hinkommen.
'You can't overtake in Monaco' 😏⚡️#MonacoEPrix pic.twitter.com/wvmcsgKV01
— Formula E (@FIAFormulaE) May 6, 2023
Nau.ch: Jean-Éric Vergne holt im Rennen 15 Plätze auf und ist damit der erste «ABB Driver of Progress». Wie ist die spektakuläre Aufholjagd zu erklären?
Carla Welti: Die Leistung von JEV und dem gesamten Team war beeindruckend. Von aussen hat man nicht mitgekriegt, dass alle Fahrer in einem Viertel der Strecke keinen Funkkontakt zum Team hatten. Da war noch nie so extrem der Fall. Das hat also den Prozess der Strategie-Entscheidung massgeblich beeinträchtigt.
Nichtsdestotrotz hat es DS mit Vergne geschafft, die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit zu fällen. Und dann hat JEV schlicht und einfach bewiesen, dass er ein genialer Fahrer ist. Er kann auch in brenzligen Situationen seine Ruhe bewahren. Es war ein Spektakel, ihm dabei zuzuschauen.
Mathias Kainz: Was mir besonderen Respekt abverlangt hat, war die Coolness, mit der Vergne seine Manöver gesetzt hat. Da war keine Brechstange dabei, sondern eher das Skalpell – das ist auch seine grösste Stärke. Und wie Carla richtig sagt, hat er das Rennen in den brenzligen Momenten richtig gelesen und seine Lücken gefunden. So macht man aus Startplatz 22 in Monaco noch ein starkes Resultat.
Vergne und Cassidy glänzen in Monaco
Nau.ch: Und zu guter Letzt die Frage: Wer war in Monaco euer Fahrer des Tages?
Carla Welti: Definitiv JEV nach seiner Leistung in Monaco. Es ist wahnsinnig schwierig, mit dem Gen3 Auto zu überholen, allem voran in Monaco. Unter diesen Voraussetzungen so geschmeidig 15 Plätze gut zu machen, verdient den Titel des Fahrer des Tages.
Mathias Kainz: Ja, da kann ich mich nur anschliessen. Was Vergne aus diesem Rennen noch rausgeholt hat, das war sensationell. Ein Lob muss ich aber auch Nick Cassidy aussprechen. Er macht aktuell einfach keine Fehler, was das Renn-Management angeht, und bringt sich selbst immer in die bestmögliche Ausgangslage.