«Fortschritt»: Schweizer Polizei spricht neu von «Femizid» – Lob
Feministinnen fordern, Tötungen von Frauen als Femizide zu benennen. Nun kommt die erste Schweizer Polizei dieser Forderung nach.

Das Wichtigste in Kürze
- Die Polizei spricht erstmals von «Femizid» nach einem tödlichem Beziehungsdelikt.
- Expertinnen loben die Verwendung des Begriffs «Femizid» als wichtigen Schritt.
- Konkrete Daten zu ermordeten Frauen fehlen – das sorgt für Kritik.
Ein sprachlicher Wandel mit grosser Bedeutung: Erstmals bezeichnet eine Schweizer Polizeibehörde ein Tötungsdelikt an einer Frau explizit als Femizid.
Der Anlass ist ein tragischer: In Epagny FR erschoss am 10. April ein 41-jähriger Mann seine 39-jährige Frau. Danach wurde das Haus durch ein Feuer komplett zerstört.
Wenige Tage nach dem doppelten Leichenfund in Epagny FR hat sich die Vermutung der Polizei bestätigt: Beim Tötungsdelikt handelte sich um einen Femizid.
Darunter versteht man ein Tötungsdelikt an Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts.
Dass eine Schweizer Polizei von sich den Ausdruck «Femizid» verwendet, ist neu. In der Regel ist sonst von «Tötungsdelikt» oder «Beziehungsdelikt» die Rede.
Polizei passt nach Sensibilisierung Wording an
Die Kantonspolizei Freiburg erklärt bei Nau.ch, warum sie sich für den Begriff «Femizid» entschied.
Sie verweist darauf, dass sie «seit vielen Jahren» mit Organisationen zusammenarbeite, die sich für Opfer einsetzen oder sich mit Tätern auseinandersetzen.
Zudem engagiere sich die Polizei in der Prävention in Zusammenarbeit mit dem Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann.

Sprecher Martial Pugin sagt: «In diesem Zusammenhang ist man es gewohnt, den Begriff ‹Femizid› zu verwenden, der sich allmählich durchgesetzt hat.»
Und: «Angesichts der tragischen Situation war die Verwendung dieses Wortes daher völlig angemessen», so Martial. Für die gesamte Bevölkerung sei die Begriffswahl «völlig verständlich».
Expertinnen loben diesen Schritt.
Kriminologin Nora Markwalder sagt zu Nau.ch: «Das ist für die Sichtbarkeit der Thematik sicherlich wichtig, wenn bei solchen Delikten bei der medialen Kommunikation von einem Femizid gesprochen wird.»
Sie erklärt: «Das ist auch ein Fortschritt gegenüber früheren Jahren, wo jeweils doch häufig von ‹Familiendramen› oder ähnlichem gesprochen wurde.»
Solche Begriffe seien jeweils problematisch. «Weil sie verschleiern, was eigentlich vorgefallen ist, nämlich ein Tötungsdelikt an einer Frau.»
Femizide sind «Ausdruck struktureller Gewalt»
Auch Lea Riedener, Bildungsverantwortliche von Brava, zeigt sich erfreut. Die Organisation setzt sich gegen Gewalt an Frauen ein.
«Brava begrüsst die zunehmende Verwendung des Begriffs. Nur wer Femizide klar benennt, kann sie auch bekämpfen», sagt sie zu Nau.ch.
Denn: «Die Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind, ist keine tragische Ausnahme, sondern Ausdruck struktureller Gewalt in patriarchalen Machtverhältnissen.»
Eine klare Sprache sei ein «wichtiger Schritt hin zu wirksamen Massnahmen».

Denn: «Femizide passieren nicht aus dem Nichts. Sie sind meist der Endpunkt einer langen Gewaltgeschichte im häuslichen Bereich.»
Um Frauenmorde zu verhindern, müsse man also früher ansetzen – entsprechend brauche es Prävention und eine Sensibilisierung.
Dass von Femizid selten gesprochen wird, liegt vor allem daran, dass es sich bislang nicht um einen offiziellen Begriff handelt.
Ein Beispiel: Als in Münchwilen TG Anfang April eine Frau tot in einem Einfamilienhaus aufgefunden wurde, sprach die Kantonspolizei Thurgau von einem «Tötungsdelikt».
Man verwende den Begriff grundsätzlich nicht, da es für Femizid keine offizielle Definition im Strafrecht gibt, heisst es bei der Thurgauer Polizei auf Anfrage.
Berner Polizei: «Begriff kann potenziell vorverurteilend wirken»
Ähnlich klingt es bei der Kantonspolizei Bern. «Uns ist bekannt, dass der Begriff Femizid ein allgemein anerkannter und weit verbreiteter Begriff ist. Auch haben wir Verständnis, dass das Bedürfnis einer Einordnung besteht», sagt Sprecherin Deborah Zaugg.

Allerdings sei der Begriff nicht fest und einheitlich definiert. Und: «Auch kann die Anwendung von Femizid in frühen Verfahrensphasen potenziell vorverurteilend wirken. Da sie eine spezifische Qualifikation implizieren kann und bereits auf ein mögliches Motiv eingeht.»
Vor diesem Hintergrund sei die Berner Polizei zurückhaltend mit dem Begriff – und man verwende ihn «sehr selten». «Allenfalls auf Nachfrage, wenn dies der entsprechende Verfahrensstand nach Rücksprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft zulässt.»
Femizid ist kein offizieller Tatbestand – Kritik
Tatsächlich gibt es bislang keine offizielle Definition. Lea Riedener von Brava bedauert: «In der Schweiz gibt es bislang keine offizielle Erfassung von Femiziden. Der Begriff ist kein eigenständiger Straftatbestand», sagt sie.
Zuletzt lehnte der Ständerat 2020 einen entsprechenden Vorstoss ab.
Riedener kritisiert: «Das behindert nicht nur eine differenzierte Datenerhebung, sondern erschwert auch gezielte Prävention. Es braucht ein systematisches Monitoring – und den politischen Willen, das strukturelle Ausmass der Gewalt endlich sichtbar zu machen»
Wegen der Datenlücke haben feministische Kreise das Rechercheprojekt «Stop Femizid» lanciert.
Das Projekt listet das Tötungsdelikt von Epagny als bereits zwölften Femizid in diesem Jahr. Zudem kam es mutmasslich zu vier versuchten Femiziden.
Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahr listete das Projekt 20 Femizide und einen versuchten Femizid in der Schweiz auf.
Thema wird «medial sichtbarer»
Handelt es sich dabei um eine tatsächliche Zunahme? Oder ist der Anstieg auf die gestiegene Sensibilität zurückzuführen – also, dass inzwischen Femizide klarer benannt werden?
«Sowohl als auch», sagt Lea Riedener von Brava. «Während im vergangenen Jahr durchschnittlich alle zwei Wochen eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet wurde, war es in den ersten Monaten des neuen Jahres eine pro Woche», beginnt sie.
«Gleichzeitig ist das Thema durch die gestiegene Anzahl Fälle und durch die unermüdliche Arbeit von feministischen Organisationen und Projekten sowie engagierten Politikerinnen und Politikern medial sichtbarer geworden.»
Kriminologin Nora Markwalder sagt dazu, dass es verfrüht wäre, statistisch von einem Anstieg zu sprechen. Dies wegen der doch geringen Anzahl innerhalb eines Jahres und Schwankungen während des Jahres.
«Bis man tatsächlich von einer statisch relevanten Zunahme sprechen kann, muss man nicht nur das Ende des Jahres abwarten. Sondern auch noch die nächsten paar Jahre eine Zunahme beobachten.»
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Brauchst du Hilfe?
Bist du Opfer von Gewalt geworden? Die Opferhilfe hilft dir dabei, die Erfahrung zu bewältigen und informiert dich über deine Rechte und weitere Schritte: www.opferhilfe-schweiz.ch.
Bist du selbst depressiv oder hast Suizidgedanken?
Dann kontaktiere bitte umgehend die Dargebotene Hand (www.143.ch). Unter der kostenlosen Hotline 143 erhältst du anonym und rund um die Uhr Hilfe.