Longchamp: Trump-Sieg unwahrscheinlich, Unruhen drohen

Politologe Claude Longchamp sagt, auf welche Swing States es bei den US-Wahlen ankommt und was bei einem knappen Resultat droht.

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Nau.ch - Politologe Claude Longchamp im Gespräch mit Nau.ch über die US-Präsidentschaftswahlen kommenden Dienstag.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die US-Wahlen werden spannend, denn Prognosen sind aufgrund mehrerer Faktoren schwierig.
  • Politologe Claude Longchamp geht davon aus, dass Donald Trump nur 20 Prozent Chancen hat.
  • Kritisch wäre ein sehr knapper Sieg von Herausforderer Joe Biden.

Am Dienstag, 3. November wählt die USA den Präsidenten für die nächsten vier Jahre. Am frühen Morgen des 4. Novembers werden die ersten Nachwahl-Befragungen Hinweise über den Wahlausgang liefern.

Eine Prognose scheint schwierig und trauen sich nur wenige zu, nachdem vor vier Jahren die meisten knapp daneben lagen.

«Eine spezielle Nacht»

Claude Longchamp wird die Wahlnacht verschlafen – oder hat es zumindest vor. Den Wecker werde er deswegen jedenfalls nicht stellen, aber es wäre wenig überraschend, wenn er nicht gut schlafen und von selbst aufwachen würde. Denn: «Es wird eine spezielle Nacht, weil zum ersten Mal überhaupt in der amerikanischen Wahl-Geschichte werden zwei Hochrechnungen gemacht.»

Die Wahl-Rivalen Donald Trump (l.) und Joe Biden standen sich schon vor vier Jahren gegenüber. - POOL/AFP

So etwas habe es noch nie gegeben und werde wohl zu unterschiedlichen Einschätzungen führen. Bei knappen Ergebnissen, insbesondere in den sogenannten «Swing States», könne es gut sein, dass man am Morgen des 4. Novembers noch keinen Gewinner kennt. «Selbst wenn man es weiss: Es ist dann nicht sicher, ob es wirklich so ist und nicht ein Korb voller Beschwerden eingereicht wird.»

Trump als schlechter Verlierer

In sechs Bundesstaaten gebe es ja bereits Vorbereitungen für genau solche Beschwerden. «Ich kann mir gut vorstellen, dass Präsident Trump das wahr macht, was er vor vier Jahren gesagt hat: ‹Wenn ich gewinne, akzeptiere ich das Ergebnis, wenn ich verliere, werde ich Einsprache erheben.›.»

Donald Trump umarmt seinen Sohn Donald Trump Jr., nach seiner Rede zur Annahme der Wahl während der Feierlichkeiten am 9. November 2016 in New York. - Keystone

Nicht nur deswegen sei eine Prognose schwierig. Weil vor vier Jahren viele daneben lagen, sei man heuer vorsichtiger geworden. Das habe damals auch daran gelegen, dass man nur entweder/oder in Betracht gezogen habe: Einen klaren Sieg von Hillary Clinton oder einen klaren Sieger Trump. Am Schluss hatte man dann einerseits Clinton mit dem Volksmehr und Trump mit den meisten Wahlmänner-Stimmen, dem Sieg beim Electoral College.

Trump unwahrscheinlich, Biden nicht sicher

Die meisten Prognosen liefen derzeit auf eine 80-20-Analyse heraus, so Longchamp. 20 Prozent Chance für Donald Trump, 80 Prozent für Joe Biden. «Das ist nicht sicher, aber es ist doch eher unwahrscheinlich, dass Donald Trump gewinnt.»

Die Kandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, gesteht ihre Niederlage ein in ihrer Rede an der Seite von Ehemann und Ex-Präsident Bill Clinton, am 9. November 2016. - Keystone

Der Historiker Allan Lichtman, der seit 1984 bei Präsidenten-Wahlen nie falsch lag, sehe das ähnlich. «Lichtman hat vor vier Jahren auch von Trump gesagt, er werde gewählt. Er sagt, dieses Mal gewinnt Joe Biden

Pluspunkte für Trump

Natürlich habe Donald Trump viele Schwächen, aber auch ein paar Stärken. «Dazu gehört zweifelsfrei, dass er sein Wahlprogramm sehr genau eingehalten und weitgehend auch durchgesetzt hat.» Auch die Zurückhaltung als militärische Weltmacht und Beendigung von Kriegen rechnet Longchamp auf der Positiv-Liste an.

Die Regierung von Donald Trump darf nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko auf Geld aus dem Verteidigungsministerium zurückgreifen. - dpa

Die Negativ-Liste ist aber gewichtig. So sei Trumps grosse Mission in Nordkorea gescheitert. Seine Versuche, die US-Wirtschaft zu lancieren, hätten dreieinhalb Jahre lang gut ausgesehen, dann aber katastrophal.

Die Basis zählt

«Vor allem ist es ihm nicht gelungen, zum Präsidenten aller zu werden – das ist ja die Aufgabe des Präsidenten, die Republik zu einen.» Im Gegenteil, Trump habe die Republik gespalten, setze ausschliesslich auf seine etwa 50 Prozent Unterstützer. «Der Rest war ihm eigentlich ziemlich egal. Ich denke, dort liegt seine absolute Schwäche.»

US-Flaggen wehen vor dem Kapitol auf halbmast. Wegen der Zehntausenden Toten in der Corona-Pandemie in den USA lässt US-Präsident Trump Flaggen auf halbmast hängen (Archivbild). - dpa

Die Corona-Krise dagegen habe einerseits eine indirekte Wirkung gehabt. Zum einen wurde die US-Wirtschaft praktisch lahmgelegt, zulasten von Trumps Pluspunkten. Andererseits: «230'000 Tote in einem Land, in welchem der Präsident gesagt hat, maximal 40'000 Tote werde diese Grippe bringen – da hat man sich schlicht um den Faktor 1:6 getäuscht.»

Die Nonchalance auch im Weissen Haus habe also indirekt auf jeden Fall geschadet. Aber auch einen direkten Schaden sieht Claude Longchamp: Die Krisen-Bewältigung habe noch einmal zusätzlich die Bevölkerung gespalten.

Alte weisse Männer unter sich

Er wolle ja Joe Biden nicht zu nahe treten, meint Longchamp. Aber dennoch: «Er ist keine charismatische Figur, hat keine riesengrosse Ausstrahlung, ist keine Attraktion.» In der aktuellen Situation könne er immerhin die Rolle des ruhenden Faktors übernehmen. Insofern sei die Wahl von Kamala Harris als Kandidatin fürs Vizepräsidium sein wohl bester Schachzug gewesen.

Ein eingespieltes Team: US-Präsident Joe Biden und US-Vizepräsidentin Kamala Harris. - dpa

«Er hat sicher die attraktivste Kandidatur ausgewählt, die ja durchaus auch demokratische Kandidatin für die Präsidentschaft hätte sein können.» Die Kombination Biden/Harris sei komplementär. Unter den vier Personalien werde über die «Neue» am meisten gesprochen.

Wie wählt die gespaltene Gesellschaft in den Swing States?

In den mal demokratisch, mal republikanisch wählenden Swing States wie Wisconsin, Ohio oder Florida könnten einzelne Bevölkerungssegmente den Ausschlag geben. Trump habe im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste die einen verärgert, bei den anderen dafür punkten können. Zwei Swing States seien wirklich relevant: Die bevölkerungsreichen Florida und Texas, weil sie sehr viele Elektoren-Stimmen zu vergeben haben.

Die Umfragewerte in Florida zeigen ein enges Rennen zwischen Trump und Biden. Mit 29 Wahlmännerstimmen ist der «Sunshine State» der gewichtigste der traditionellen Swing States. - Screenshot «FiveThirtyEight»

Umfragen und Analysen zeigten aber, dass Trump maximal einen der beiden Grossen gewinnen können werde. «Unter dem Strich gehen fast alle davon aus, dass die Swing States dieses Mal auf der Seite der Demokraten sind. Vor allem diejenigen, bei denen man sich vor vier Jahren getäuscht hat.» Es gebe nämlich einen grossen Unterschied von Hillary Clinton zu Joe Biden: «Joe Biden hat bemerkenswert stabile Umfragewerte.»

Das Szenario: Donald Trump verliert äusserst knapp

Bei allem Werweissen scheint ein möglicher Wahlausgang der kritischste: Biden gewinnt, aber nur ganz knapp vor Trump. «Das wird eine grosse Unruhe auslösen», mahnt Longchamp. Die erste Stufe wird sicher mal eine verbale Attacke sein. Die zweite Stufe ist praktisch schon vorbereitet: Juristische Einsprachen zum Ergebnis, vor allem in den umstrittenen Bundesstaaten.»

Ein freiwilliger Stimmenzähler prüft einen Stimmzettel während der von Hand durchgeführten Nachzählung im Staat Florida nach der Präsidentschafts-Wahl 2000. - Keystone

Das weckt unschöne Erinnerungen an die Nachzählung in Florida nach den Präsidentschaftswahlen von 2000, als George W. Bush schliesslich per Gerichtsentscheid gegen Al Gore gewann. Mit solchen Dingen sei zu rechnen. «Den Rest, da hoffen wir alle, dass es nicht eintreten wird: Soziale Unruhen wären durchaus denkbar.»

Eine grosse Rolle spielen werde das Verhalten des Militärs. Auch ein Angebot von Joe Biden sei durchaus denkbar: «Dass er Donald Trump für sämtliche Klagen, die ihm drohen, eine Amnestie anbietet, wenn er dafür schweigt und abtritt.» Auf jeden Fall müsse man damit rechnen, dass bis zum 8. Dezember, wenn die Elektoren-Stimmen abgegeben werden, zu grösseren Auseinandersetzungen komme.

John Fitzgerald Johnson, genannt Grandmaster Jay, führt Mitglieder einer schwarzen Miliz an in der Innenstadt von Lafayette im Bundestaat Louisiana, nach dem Tod eines Schwarzen. - Keystone