Kolumne

Vernetzter denn je, und dennoch: Lost in Isolation

Judith Heede
Judith Heede

Bern,

Wir sind zwar permament am Kommunizieren, aber den wichtigsten Kontakt haben viele von uns längst verloren: den zu uns selbst.

Frau Computer
Wer ständig auf einen Bildschirm starrt, schadet seinem Wohlbefinden: Das Nervensystem bleibt dauerhaft in Alarmbereitschaft, und es kommt zu einer verstärkten Dissoziation. - Depositphotos

Das Wichtigste in Kürze

  • Selbstentfremdung beginnt früh durch gesellschaftliche Erwartungen.
  • Traumata und Überstimulation belasten das Nervensystem nachhaltig.
  • Selbstverbindung heilt und fördert Klarheit sowie inneres Wachstum.

Wir sind Meister im Funktionieren. Job, Familie, Freunde, Verpflichtungen – alles wird abgehakt, als sei unser Leben eine To-do-Liste. Und doch liegt in vielen von uns dieses bohrende Gefühl: Ist das alles? Wieso fühle ich mich leer, obwohl ich «alles habe»? Die Antwort liegt selten im Aussen, sondern fast immer in uns selbst.

Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, dass Ihr Leben an Ihnen vorbeizieht? Sie erfüllen Ihre Pflichten, Ihre To-do-Liste ist abgehakt, und trotzdem bleibt da diese diffuse Leere.

Kaffeetisch, Frauenhand, To-Do-Liste
Leben ist mehr als das Abhaken von Aufgaben – aber wann nehmen wir uns noch die Zeit, es wirklich zu spüren? - Depositphotos

Willkommen in der Realität vieler Menschen in unserer modernen Gesellschaft. Das Problem: Wir leben immer weiter entfernt von unserem wahren Selbst, ohne es zu merken. Aber warum passiert das, und wie können wir den Weg zurückfinden?

Der Verlust der Selbstverbindung – ein schleichender Prozess

Wir kommen alle als authentische, verbundene Wesen zur Welt. Babys weinen, wenn sie hungrig sind, und lachen, wenn sie glücklich sind – sie kennen keine Masken. Doch spätestens mit dem Eintritt in die Schule beginnt der schleichende Prozess der Selbstentfremdung.

Dort wird uns beigebracht, dass es wichtiger ist, brav zu sein, Regeln zu folgen und gute Noten zu schreiben, als zu spüren, was wir wirklich wollen oder brauchen. Kreative Impulse, wie das Malen von Weltraumhelden oder das Träumen von einer Zukunft als Tänzerin, werden oft belächelt. Stattdessen lernen wir, uns an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen.

Dieser Druck setzt sich im Elternhaus fort. Aussagen wie «Sei nicht so empfindlich» oder «Du musst fleissig sein, um etwas zu erreichen» sind gut gemeint, hinterlassen jedoch tiefe Spuren. Sie signalisieren uns, dass wir unsere Emotionen unterdrücken und uns anpassen müssen, um geliebt und akzeptiert zu werden.

Der Psychologe Richard Schwartz, Begründer des Modells der «Internal Family Systems» (IFS), beschreibt, wie wir in solchen Momenten anfangen, Teile unseres Selbst abzuspalten.

Diese «Exile», also verstossene Anteile, tragen den Schmerz und die Verletzungen, die wir nicht verarbeiten konnten. Um die Exile zu schützen, entwickeln wir sogenannte «Manager»- und «Firefighter»-Anteile, die uns antreiben, kontrollieren oder ablenken.

Kleine Traumata, grosse Wirkung

Man braucht kein Kriegsveteran oder Unfallopfer zu sein, um traumatisiert zu sein. In der Psychologie unterscheidet man zwischen «grossen T»-Traumata wie Missbrauch oder lebensbedrohlichen Ereignissen und «kleinen T»-Traumata, die subtiler, aber nicht weniger prägend sind.

Dazu gehören Erfahrungen wie ignoriert zu werden, abwertende Kommentare von Eltern oder Lehrern, oder Mobbing in der Schule. Der Neurobiologe Stephen Porges hat in seiner Polyvagal-Theorie gezeigt, wie solche Erlebnisse unser autonomes Nervensystem beeinflussen und uns dauerhaft in einen Zustand von Alarmbereitschaft versetzen können.

Fight Flight Freeze response
Die 5F-Trauma-Reaktionen – Kampf (Fight), Flucht (Flight), Erstarren (Freeze), Nachgeben (Flop) und Anpassen (Fawn) – sind ein Modell zur Verdeutlichung, wie unser Nervensystem auf Stress und traumatische Erlebnisse reagiert. - Depositphotos

Bessel van der Kolk, einer der führenden Trauma-Experten, beschreibt in seinem Buch «The Body Keeps the Score», dass Traumata nicht nur im Kopf, sondern auch im Körper gespeichert werden.

Diese «Ladung» im Nervensystem zeigt sich oft in Form von Verspannungen, Schlaflosigkeit oder unerklärlichen Schmerzen. Infolgedessen verlieren wir die Fähigkeit, klar zu denken, und handeln aus einem Überlebensmodus heraus.

Warum Selbstverbindung alles verändert

Die Folgen dieser Entfremdung zeigen sich in nahezu allen Lebensbereichen. Beziehungen bleiben oberflächlich, weil wir Angst haben, unsere verletzlichen Seiten zu zeigen. Entscheidungen im Beruf werden oft aus Angst oder gesellschaftlichem Druck getroffen, statt aus echter Überzeugung. Und im Alltag suchen wir Ablenkung in Konsum oder sozialen Medien, um die innere Leere zu füllen.

Doch was passiert, wenn wir den Mut aufbringen, uns wieder mit unserem Selbst zu verbinden? Studien zeigen, dass Menschen, die sich selbst kennen und akzeptieren, erfülltere Beziehungen führen, erfolgreicher sind und gesünder mit Krisen besser umgehen können.

Eine Untersuchung der University of Rochester belegt, dass Selbstreflexion und Achtsamkeit signifikant mit einem höheren Lebensglück korrelieren. Selbstverbindung gibt uns die Möglichkeit, Entscheidungen aus Klarheit und innerer Ruhe zu treffen, statt aus Angst oder alten Mustern.

Wie wir uns selbst verlieren

Zahlreiche Studien, darunter die Untersuchung von Twenge et al. (2018), zeigen, dass zum Beispiel exzessive Bildschirmnutzung das Nervensystem dauerhaft in einem Zustand erhöhter Erregung halten kann, was den Übergang in den parasympathischen Modus – zuständig für Entspannung und Regeneration – erheblich erschwert.

Diese ständige Aktivierung des sympathischen Nervensystems führt langfristig zu Stress, Erschöpfung und emotionaler Dysregulation. Die Kombination aus Überstimulation und Entfremdung beeinträchtigt die mentale Gesundheit und verringert die Fähigkeit, im Moment präsent zu sein.

Der lange Weg zurück

Der Weg zurück zu uns selbst beginnt mit dem Bewusstsein, dass etwas fehlt. Viele Menschen fühlen eine innere Unruhe, können sie aber nicht benennen. Oft zeigt sich diese Unzufriedenheit in Form von Burnout, Beziehungsproblemen oder dem Gefühl, im falschen Leben zu stecken.

Richard Schwartz bietet mit seinem IFS-Modell eine klare Anleitung, wie wir diese verlorenen Teile in uns wieder integrieren können. Der Schlüssel liegt darin, die Exile, Manager und Firefighter in uns zu erkennen und ihnen mit Mitgefühl zu begegnen.

Statt diese Anteile zu bekämpfen, sollten wir ihnen aufmerksam zuhören: Was versuchen sie uns mitzuteilen? Welche Ängste, Bedürfnisse oder ungelösten Gefühle liegen ihrem Verhalten zugrunde? Wenn wir lernen, uns selbst achtsam zuzuhören und uns mit dem zu nähren, was wir wirklich brauchen, kann ein tiefer innerer Heilungsprozess stattfinden.

Frau im Wald, Entspannung
Achtsames Zuhören und das Erkennen unserer wahren Bedürfnisse, unterstützt durch die heilende Kraft der Natur, eröffnet den Weg zu tiefer innerer Heilung. - Depositphotos

Wir werden zunehmend vollständig zu uns selbst, was es uns ermöglicht, aus einem Gefühl der inneren Fülle heraus Entscheidungen zu treffen – Entscheidungen, die sowohl mit unseren Bedürfnissen als auch mit unseren langfristigen Zielen im Einklang stehen.

Vom Überlebensmodus in den Wachstumsmodus

Um dauerhaft aus dem Überlebensmodus auszusteigen, ist es wichtig, unser Nervensystem zu regulieren. Hier kommen somatische Ansätze ins Spiel, die direkt auf den Körper wirken. Studien von Ruth Lanius und anderen zeigen, dass Techniken wie Atemübungen, Grounding und achtsame Bewegung die Stresshormone im Körper reduzieren und die Verbindung zum Selbst stärken können.

Eine einfache, aber wirkungsvolle Methode ist das sogenannte «Orienting». Dabei richten Sie Ihre Aufmerksamkeit bewusst auf die Umgebung: Was sehen, hören oder spüren Sie? Diese Technik hilft, das Gehirn aus dem Alarmmodus zu holen und signalisiert dem Körper, dass keine unmittelbare Gefahr besteht.

Ein oft unterschätztes Werkzeug zur Selbstverbindung ist die Natur. Eine Studie der Universität Exeter fand heraus, dass schon 20 Minuten in einem Park oder Wald das Cortisolniveau, unser Hauptstresshormon, senken können. Gehen Sie barfuss, spüren Sie die Erde unter Ihren Füssen, hören Sie den Wind in den Bäumen. Dieser Kontakt zur Natur hilft, sich zu erden und die innere Balance wiederzufinden.

Der Unterschied zwischen Ego und Selbst

Ein zentraler Schritt auf diesem Weg ist es, das Ego vom wahren Selbst zu unterscheiden. Während das Ego angstgesteuert und auf äussere Anerkennung fixiert ist, ist das Selbst ruhig, klar und voller Mitgefühl. Gabby Bernstein beschreibt es treffend: «Dein Ego macht Angst, während dein Selbst dir den richtigen Weg zeigt.»

Selbstverbindung ist kein Zustand, den man einmal erreicht und dann für immer behält. Es ist eine Praxis, die tägliche Aufmerksamkeit erfordert. Doch die Belohnung ist enorm: ein Leben, das nicht nur funktioniert, sondern erfüllt ist.

Denn wenn wir mit uns selbst im Reinen sind, können wir nicht nur bessere Entscheidungen treffen, sondern auch tiefere Beziehungen führen und die Welt mit unseren einzigartigen Talenten bereichern.

Der Weg zurück zu uns selbst mag herausfordernd sein, aber er ist auch der einzige Weg, der wirklich zählt. Wie Bessel van der Kolk sagt: «Du musst mit deinem Körper Frieden schliessen, um deine Seele zu heilen.»

Über die Autorin

Judith Heede ist eine deutsche Autorin, die sich seit über 20 Jahren intensiv mit dem Thema mentale Gesundheit auseinandersetzt. Als ausgebildete Journalistin schreibt sie heute für verschiedene Medien über Mental Health und arbeitet als Motivational Speaker und Coach.

Neben ihrer praktischen Arbeit erweitert Judith Heede ihr Wissen in akademischen Kontexten. Sie nimmt an den Master-Events zu Trauma, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden an der University of Oxford teil und studiert hier zudem Psychologie im Rahmen eines «Certificate of Higher Education».

Kommentare

User #5927 (nicht angemeldet)

Grundsätzlich bin ich mit der Autorin einverstanden. Die Kernaussage «...dass zum Beispiel exzessive Bildschirmnutzung das Nervensystem dauerhaft in einem Zustand erhöhter Erregung halten kann...» finde ich falsch. Aus meiner Sicht kommt es extrem darauf an was die Bildschirmnutzung beinhaltet. Wenn ich einfach ein tolles Spiel spiele, dass mich "beglückt" und nicht aufregt (wie z.B. Anno 1800), dann kann das durchaus zur Entspannung beitragen. Deshalb sehe ich diese Aussage betreffend «Bildschirmzeit» als nicht relevant an.

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