Wie holt man sich Gelassenheit ins Leben?
Das Alter macht Menschen gelassener, heisst es oft. Wirklich? Aber aus welchen Zutaten besteht Gelassenheit und wie holt man sich mehr davon ins Leben?
Das Wichtigste in Kürze
- Viele Menschen wünschen sich mehr Gelassenheit im Leben.
- Diese Fähigkeit entwickelt sich oft mit zunehmendem Alter – und man kann was dafür tun.
- Zum Beispiel: das Hier und Jetzt gestalten und akzeptieren, was sich nicht ändern lässt.
Rumtoben mit den Enkelkindern? Das macht die Hüfte vielleicht nicht mehr mit. Eine liebe Freundin besuchen? Die ist nach schwerer Krankheit verstorben. Und grössere Reisen? Davon bleiben nur die Fotos im Album. Neue Pläne wird es nicht mehr geben.
Mit dem Alter kommt für viele das Gefühl, etwas zu verlieren. Und das schmerzt. Aber es gibt auch etwas zu gewinnen – und zwar im Inneren: Ruhe, Akzeptanz, Zufriedenheit. Und damit oft auch grossen Genuss an kleinen Dingen des Alltags.
Doch warum gelingt das einigen Menschen besser als anderen? Und wie kann man sich etwas mehr von dieser Gelassenheit ins Leben holen?
Was ist Gelassenheit überhaupt?
Das hängt davon ab, wie man den Begriff auslegt. «Es kann von Wohlbefinden im Alter die Rede sein, von positiven Gefühlen wie Ruhe oder Entspannung, die aber nicht aufregend sind», sagt Prof. Maria Pavlova, Psychologin mit Schwerpunkt Gerontologie.
Man kann den Begriff aber auch anders ausrichten, «als Phänomen, dass manche Menschen weniger stark auf negative Erlebnisse reagieren».
Entwickelt sich mit dem Alter automatisch Gelassenheit?
So schön es auch wäre: «Mit dem Alter zieht nicht automatisch die Gelassenheit ein.» Das sagt der Pädagoge und Podcaster Bertram Kasper («Gelassen älter werden»), der sich selbst als Altersstratege bezeichnet.
Denn die Gruppe der Älteren ist – wie auch die Forschung immer wieder betont – heterogen.
Eine Tendenz in Richtung Gelassenheit gibt es aber. «In wohlhabenden Ländern wie Deutschland beobachtet man, dass im Alter im Schnitt ruhige Emotionen stärker werden – dass man sein Leben geniessen kann oder mehr Entspannung verspürt», sagt Pavlova.
Wichtig ist hier aber die Info: im Schnitt. «Es gibt grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen.»
Entscheidend dafür, wie gelassen man durchs Leben geht, ist weniger das Alter – und mehr die Struktur der eigenen Persönlichkeit. «Vieles deutet darauf hin, dass Menschen Kontinuität haben, in ihrer Persönlichkeit, in ihren Reaktionsmustern», sagt Maria Pavlova.
Wer schon immer entspannt und mit viel emotionaler Stabilität durchs Leben gehen konnte, dem fällt Gelassenheit im Alter leichter, sagt auch Bertram Kasper. Wer schon immer eine Runde mehr auf dem Gedankenkarussell gedreht hat, der hat es schwerer.
Was macht das Älterwerden mit der Persönlichkeit – gerade wenn es zu Krankheit und Verlust kommt?
«Älterwerden ist eine ständige Akzeptanzübung», sagt Bertram Kasper. Denn gerade in dieser Lebensphase zeigt sich in Form von Krankheiten, Todesfällen, vielleicht auch finanziellen Sorgen: Wir können nicht alle Bereiche unseres Lebens kontrollieren.
Die gute Nachricht: Häuft sich nicht zu viel auf einmal an, können Ältere solche Erlebnisse in vielen Fällen gut bewältigen.
«Verluste im nahen Umfeld oder Krankheiten werden im Alter in vielen Fällen als natürlich wahrgenommen», sagt Pavlova. In der Psychologie ist dann von normativen Ereignissen die Rede. Man rechnet eher mit ihnen als in jüngeren Jahren. Schmerzhaft sind sie trotzdem.
Aber wenn es zu viel wird – eine chronische Erkrankung, von Schmerzen begleitet, dann auch noch der Tod des Partners – kann es kippen, wie Maria Pavlova beschreibt.
In der Forschung gibt es demnach Hinweise, dass Ältere mit solchen akut oder mehrfach belastenden Situationen schlechter umgehen können als jüngere.
Welche Rolle spielt die Lebenserfahrung?
Sie kann uns etwas an die Hand geben, um Herausforderungen besser zu bewältigen.
«Wenn Menschen schon ein ganzes Leben hinter sich haben – ein ganzes Berufsleben etwa – da hat man sich gut kennengelernt und ein gutes Gespür für seine Stärken und Schwächen», sagt Bertram Kasper.
Und Menschen haben schon Übergänge und Krisen gemeistert. «Und sie haben daraus gelernt, was im eigenen Leben gut funktioniert und wodurch ich als Individuum Sicherheit erlange. Das ist wertvoll», sagt Kasper.
Er verweist auf die sogenannten «Big Five», ein Modell aus der Persönlichkeitspsychologie, das fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit abbildet.
Eine von ihnen ist die Verträglichkeit, also das Mass an Empathie und Rücksicht im Umgang mit anderen Menschen. Laut Kasper nimmt sie bei vielen Menschen im Alter zu. «Wenn ich älter werde, muss ich mir nicht mehr so viel beweisen und nicht mehr so viel in Auseinandersetzung treten.»
Auch die Gewissenhaftigkeit – eine weitere Dimension – verabschiedet sich bei vielen Älteren mehr und mehr.
«Für die Gelassenheit ist es gut, wenn die Gewissenhaftigkeit abnimmt, weil man dann leichter alle fünf gerade sein lassen kann», sagt Kasper.
Dann kann man entscheiden: Nö, ich bleibe heute einfach länger im Bett liegen und verzichte heute auf meine kleine Morgenrunde. Und das auch geniessen.
Wie können wir gelassener werden?
Gelassenheit üben – das klingt gross, schwer greifbar. Aber weil sie sich laut Bertram Kasper immer auf einzelne Situationen bezieht, kann man sie immer wieder im Kleinen trainieren. Wenn die Bedienung im Café lange auf sich warten lässt. Oder beim Blick in den Spiegel, auf das Haar, das immer dünner wird.
Laut Psychologin Maria Pavlova ist es für mehr Gelassenheit wichtig, zwischen wichtigen und unwichtigen Situationen unterscheiden zu können.
«Also zwischen Situationen, in denen ich kämpfen muss, weil in einem mir sehr wichtigen Bereich etwas gegen meinen Willen passiert und Situationen, die nicht so wichtig sind», sagt sie.
Denn so setzt man seine Energie clever ein. Ein Gespür für diese Unterscheidung ist allerdings nicht zwangsläufig ans Alter geknüpft, sagt Pavlova. Man kann es also schon früher entwickeln.
Am Ende kommt man um eines nicht herum: Akzeptieren, was sich nicht ändern lässt. Denn das schafft Raum, um die Bereiche des Lebens zu gestalten, auf die man Einfluss hat.
Das gelingt am besten, wenn man sich in der Gegenwart verankert – anstatt sich in Grübeleien über Vergangenheit oder Zukunft zu verlieren. Bertram Kasper kennt eine Frage, die dabei helfen kann: «Was tut mir gerade gut – und was nicht?»
Wer auf seine Bedürfnisse hört, kann sich das Hier und Jetzt gestalten. Und dort wartet vielleicht das kleine Glück, das all die Schatten für einen kurzen Moment überstrahlt.