«Thelma» macht den Zuschauer zum Voyeur, Kommissär und Stauner
Thelma könnte eine junge Frau sein, wie es in Oslo viele gibt. Eine Studentin vom Lande, die nicht nur in den Vorlesungen viel lernt, sondern fernab des strengen Elternhauses endlich das Leben schmeckt. Doch Thelma ist nicht, wie viele andere.
Das Wichtigste in Kürze
- Mit «Thelma» kehrt Regisseur Joachim Trier nach einem Ausflug in den englischsprachigen Film nach Norwegen zurück.
- Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die nach Oslo zieht und die strengen Fesseln der Eltern sanft abstreift.
- Doch während Thelma zu leben lernt, bricht immer mehr Chaos über sie herein. Oder ist es genau umgekehrt?
- Starke Bilder, starke Darsteller, unerwartete Wendungen.
Schlanke Bäume. Fahles Licht. Der Schnee knirscht unter den grossen Füssen des Jägers und unter den kleinen seiner Tochter. Dann setzt der Vater das Gewehr an, konzentriert. Das Mädchen, sechs Jahre alt ist sie, vielleicht auch erst fünf, geht noch einen Schritt weiter. Dann bleibt sie ruhig stehen. Hinter ihr zielt der Vater. Nicht auf das Reh, das Gefahr wittert und nervös scharrt, sondern auf das Kind.
Kein Schuss zerreisst die winterliche Stille. Der Schnee knirscht unter dem Paar grossen und dem Paar kleinen Füssen.
Ein Jahrzehnt und eine Handvoll Jahre mehr vergehen. Wir schauen aus himmlischer Perspektive auf einen Platz voller Menschen. Hier könnte gerade jeder durchgehen. Doch die Kamera tastet sich vor, sucht, und findet: Thelma (Eili Harboe). Ihr folgt sie nun – und das ist ein qualvoller Genuss.
Thelma, die das streng konservative Elternhaus verlassen hat, um in Oslo zu studieren. Der Grossstadt, wo die Menschen rauchen, trinken, vögeln, tanzen und lachen. Thelma, deren Eltern täglich anrufen und ihren Stundenplan auswendig wissen. Thelma, die sich Freunde wünscht. Thelma, die vor dem Vater keine Geheimnisse hatte – weder vor dem im Himmel, noch vor dem auf Erden. Hatte.
Thelma, die raucht, trinkt, tanzt, lacht, betet und sich in ein Mädchen verliebt. Thelma, mit der etwas einfach nicht stimmt.
Realität, statt Schönmalerei
Als Thelma einen epileptischen Anfall hat, ist klar: Wir befinden uns fernab vom Hochglanz Hollywoods, wo selbst Schrecken und Grauen ein bisschen gepudert werden. Thelma hat nicht nur gezuckt und geschüttelt. Sie hat sich in die Hose gemacht.
Nach einem erfolglosen Umweg in den englischsprachigen Film («Louder than Bombs», 2015) macht Joachim Trier mit «Thelma» grosses, skandinavisches Kino. Er hält die Kamera unerbittlich auf Szenen, vor denen man sich im Kinosessel windet. Nicht, weil Blut spritzt oder Bomben donnern. Sondern weil im Gesicht der grandiosen Hauptdarstellerin Eili Harboe so viel passiert, dass man das Mitgefühl kaum erträgt.
Zuschauer, Voyeur, Kommissär
Niemals kommt das Gefühl auf, hier werde etwas gespielt, von langer Hand geplant und inszeniert. Vielmehr wird der Zuschauer zum Voyeur. Zum Beobachter einer Geschichte, von deren Verlauf man stets eine Ahnung zu erhaschen scheint – bis sich alle Vorzeichen wieder umkehren. Feind wird Freund, Freund wird Verlust.
Aus dem Voyeur wird ein Kommissär. Details fügen sich zusammen, ergeben Sinn. Metaphern verflechten sich gekonnt mit dem Duktus der primären Geschichte und erzählen zurückhaltend eine zweite. Bilder, die etwas vorweg zu nehmen schienen, zeigen tatsächlich etwas anderes. Vor die Realität schiebt sich der Wille. Thelmas Wille.
Und irgendwann, erschöpft, verwundert, verwirrt aber reicher, schauen wir wieder auf den Platz voller Menschen. Einer davon ist Thelma. Und jeder kommt hier bestimmt nicht (mehr) durch.
★★★★☆
Ab dem 22. März im Kino.