Der einsamste Baum der Welt auf Campbell Island
Eigentlich sind Sitka-Fichten in Nordamerika beheimatet. Eine hat es aber ans andere Ende der Welt geschafft, wo sie ganz allein auf einer subantarktischen Insel wächst. Der Baum gilt als der abgelegenste der Erde - und muss sich auch noch ständigem Nieselregen anpassen.
Das Wichtigste in Kürze
- Der einsamste Baum der Welt wächst zwischen Neuseeland und der Antarktis auf einem verlassenen Fleckchen Erde.
Die einzelne Sitka-Fichte auf Campbell Island hat es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft, weil sie den wilden Winden der unwirtlichen Region zum Trotz auch ohne die Gesellschaft von Artgenossen überlebt hat. «Es wird angenommen, dass der abgelegenste Baum überhaupt eine einsame Fichte auf Campbell Island ist, deren nächster Kollege wohl über 222 Kilometer entfernt auf den Auckland-Inseln steht», heisst es in dem Eintrag.
Aber sowohl der genaue Ursprung als auch das Alter des Sonderlings sind bis heute ein Rätsel - trotz eingehender Forschungen. Eine Theorie besagt, dass der Earl von Ranfurly, der 15. Gouverneur von Neuseeland, den Baum zwischen 1901 und 1907 gepflanzt haben soll. Deshalb wird die Fichte auch manchmal «Ranfurly-Baum» genannt.
«Angesichts der Geschwindigkeit, mit der der Baum wächst, glaube ich aber nicht, dass er bereits so früh gepflanzt wurde», sagt Jonathan Palmer von der Universität von New South Wales. Er war eigens nach Campbell Island gereist, um dem Baum seine Geheimnisse zu entlocken. Jedoch gaben die entnommenen Kernproben keinen endgültigen Aufschluss über das Alter, weil sie nicht bis zum Mark des Baums reichten.
Sicher ist: «Die Sitka-Fichte auf Campbell Island ist sehr weit weg von zu Hause», wie der Wetterbeobachter Mark Crompton erklärt, der an zahlreichen Expeditionen in die Region teilgenommen und dort mehrere Jahre verbracht hat. Denn diese Art von Fichte ist eigentlich in Nordamerika beheimatet, wo sie zwischen Alaska und Kalifornien gedeiht - also sprichwörtlich am anderen Ende der Welt.
Es sei geradezu ironisch, dass es sich um eine nicht-heimische, eingeführte Spezies handele, die da auf dem geschützten Eiland wachse, sagt Palmer. «Der Baum ist aus historischen Gründen dort, aber genau genommen sollte er entfernt werden, da er das Potenzial hat, Samen zu produzieren und so für Probleme zu sorgen.» Weil sie als invasive Art gilt, wird die Fichte von den Naturschutzbehörden überwacht. Jedoch wurden bisher keine lebensfähigen Samen oder Zapfen gefunden.
Bei idealen Bedingungen können Sitka-Fichten bis zu 100 Meter hoch werden. Aber die subantarktische Insel im Pazifik ist nicht gerade für schönes Wetter bekannt. Es regnet durchschnittlich 325 Tage pro Jahr, bei nur etwa 600 Sonnenstunden. «Das totale Elend. Da hängen immer niedrige Wolken und es nieselt unaufhörlich», erzählt Crompton. Dennoch ist der Baum gesund - auch wenn er bis heute gerade einmal zehn Meter hoch gewachsen ist. «Er ist gedrungen und wächst in die Breite, weil er ständig vom Wind gepeitscht wird.»
Auf Fotos sieht es so aus, als wäre der Baum gar nicht so einsam, ist er doch von reichlich Grün umgeben. Jedoch handelt es sich bei den Nachbar-Pflanzen um Sträucher, Gräser, Farne und Heidekrautgewächse, nicht aber um Bäume.
Dass die Fichte nie in vollem Glanz erstrahlt ist, könnte auch mit den Wissenschaftlern zu tun haben, die seit vielen Jahren auf Campbell Island Forschungen zur örtlichen Flora und Fauna anstellen. Ein Gerücht besage nämlich, dass diese alljährlich die Spitze gekappt hätten, um sie als Weihnachtsbaum zu nutzen, sagt Aaron Russ, dessen Eltern seit 1984 mit ihrem Unternehmen «Heritage Expeditions» die Region bereisten. Heute leitet er die Firma mit seinem Bruder.
Der Vater war Botaniker, und das erklärte Ziel der Familie war und ist es, mittels verantwortungsvoller Expeditionsreisen das Bewusstsein der Menschen für die Natur und für deren Schutz zu stärken. «Die einsame Sitka-Fichte ist zwar physisch unauffällig, aber kulturell sehr wichtig», ist Russ überzeugt. Denn Forscher fanden heraus, dass die entnommenen Proben ein potenzieller Marker für den Beginn des Anthropozäns darstellen könnten - einem Begriff für ein neues Erdzeitalter, in dem der Mensch signifikant Einfluss auf die Natur genommen hat.
Ganz Campbell Island ist derweil ein bedeutendes Naturschutzgebiet, das alljährlich gleichermassen Tier- und Pflanzenliebhaber und Wissenschaftler in die subantarktische Region lockt. Der britische Botaniker Joseph Hooker schwärmte einst, die Insel besitze eine Flora, «die ausserhalb der Tropen einmalig ist». Auch die Fauna kann sich sehen lassen: Auf Campbell Island leben zahlreiche seltene Vogelarten, viele davon endemisch. «Campbell Island ist ein Schatz für die ganze Welt. Neuseeland hat nur das Glück, ihr Verwalter zu sein», sagt Russ. Und zu dem Schatz gehört auch ein kleiner, einsamer Baum, der allen Widrigkeiten trotzt - und noch immer Rätsel aufgibt.