Sudans Schildkröten-Wettrennen: Ein Land entdeckt seine Kreativität
Schildkröten gelten als Inbegriff der Langsamkeit. Im Sudan dagegen haben sie gute Chancen, zum Rennpferd zu werden.
Das Wichtigste in Kürze
- Das nordost-afrikanische Land Sudan befindet sich im Umbruch.
- Seine Bewohner entdecken ihre Kreativität und führen Schildkröten-Rennen durch.
- Der Wettkampf geniesst immer grössere Beliebtheit.
Die Welt der sportlichen Wettbewerbe ist dank der sudanesischen Tierärztin Nun Mahdschub um eine kuriose Disziplin reicher. Die 27-Jährige sieht sich selbst als Erfinderin der in ihrer Heimat aufkommenden Schildkrötenrennen.
«Mich haben mehrere Gründe zur Organisierung dieser Schildkrötenrennen veranlasst.» Das sagt sie vor dem Nationalmuseum in der Hauptstadt Khartum. Dort brachte gerade die Rennschildkröte «Dargot» ihrer Eigentümerin eine Trophäe ein.
Zusätzlich gewann sie ein kleines Preisgeld von 1000 sudanesischen Pfund (21,50 Franken). Über die Distanz von 2,50 Metern liess sie ihre 35 Mitbewerber weit hinter sich. Sie kroch schon nach 33 Sekunden über die Ziellinie.
«Es handelt sich um unterdrückte Tiere, die stets mit Langsamkeit in Verbindung gebracht werden. Diese Ungerechtigkeit ist das Ergebnis von Geschwindigkeitsvergleichen mit Tieren aus völlig anderen Gattungen», begründet Mahdschub ihre Idee.
3000 Zuschauer bei Premiere
Die relativ hohe Anzahl von rund 300 Zuschauern bei der Premiere in Khartums Museumsgarten Ende November überrascht aber auch sie. Begeistert feuern sie die mit Nummern auf dem Panzer versehenen Tiere an. Die Eigentümer der Rennschildkröten locken ihre Lieblinge im Ziel mit deren Lieblingsspeisen. Beim Ertönen des Startsignals per Trillerpfeife sind aber auch leichte Stupser zum Kick-Start erlaubt.
Der kleine Abdel Rahman etwa gehört zu den begeisterten Zuschauern – er schickt seine «Tortilla» ins Rennen. Der Dreijährige galt nach Angaben seiner Mutter als introvertiert, bis er die Leidenschaft fürs Schildkrötenrennen entdeckte. Jetzt wirkt er wie ausgewechselt.
Die neue Leidenschaft für Zerstreuung aller Art bricht sich im Sudan Bahn. Dies seit die Übergangsregierung die an den islamischen Rechtsvorschriften der Scharia orientierten strengen Gesetze von Langzeitherrscher Omar al-Baschir aufbricht. Sie regelten seit den 1990er Jahren etwa Kleidervorschriften oder auch Alkoholverbote.
Al-Baschir hatte den Sudan fast 30 Jahre lang mit harter Hand regiert. Im April war er unter dem Druck monatelanger Massenproste von der Armee abgesetzt worden. Im Juli einigten sich dann das Militär und die zivile Opposition auf eine Übergangsregierung. Nun werden viele alte Zöpfe abgeschnitten und neue Freiheiten angetastet.
Neue Freiheiten
Das Schildkrötenrennen gehört dazu. Es soll nach dem Erfolg der Premiere nun häufiger stattfinden. In einem Land, in dem es nur wenig Freizeitmöglichkeiten gibt, steht Sport egal welcher Art ganz oben.
Denn für die wenigen Konzerte, die es gibt, reicht bei vielen oft das Geld nicht, um die Eintrittskarten zu bezahlen. Die wirtschaftliche Lage im Lande ist nach wie vor durchwachsen.
Die Tierärztin Mahdschub begann 2018 eine Schildkrötenzucht und startete gleichzeitig einen lukrativen Handel damit. Sie versteht die Rennen auch als Chance, um über Gewohnheiten und Besonderheiten dieser Tiere zu informieren. Viele ihrer Kunden sind Mütter auf der Suche nach interessanten Geschenken für ihren Nachwuchs. Die Tiere sollen sie von TV-Geräten und Computern weglocken.
Auch die Biologielehrer Mohammed Hamdin und Nasrallah al-Kasim setzen auf den pädagogischen Effekt der Schildkrötenrennen. Diese haben in einem Land wie dem Sudan auch unterhaltsamen Charakter. Denn der Zoo der Stadt wurde in den 1990er Jahren geschlossen.
Für viele Kinder stellen Schildkröten als Haustiere daher auch eine Art Anschauungsunterricht dar. «Durch solche Rennen kann man das Bewusstsein von Kindern und Erwachsenen dafür erweitern, dass es ausser uns Menschen auch noch andere auf diesem Planeten gibt.» Das sagt etwa der Vater der vierjährigen Anne.