Coronavirus: Darum hat Grossbritannien die höchste Todeszahl Europas
Das Vereinigte Königreich hat einen traurigen Rekord gebrochen: Kein europäisches Land hat mehr Todesfälle in Folge des Coronavirus. Was läuft falsch?
Das Wichtigste in Kürze
- Am Dienstag überholte das Vereinigte Königreich Italien in der Anzahl Corona-Toter.
- Die britische Regierung hatte lange an ihrer Durchseuchungs-Strategie festgehalten.
- Der nationale Gesundheitsdienst zeigt nach jahrelangem Sparen deutliche Schwächen.
Grossbritannien hat einen unrühmlichen Rekord gebrochen: Mittlerweile meldet das Land über 30'000 Tote in Folge des Coronavirus. Damit hat das Vereinigte Königreich Italien überholt und liegt europaweit auf Platz eins. Auch wenn sich die Zahlen aufgrund unterschiedlicher Bedingungen nur schwer vergleichen lassen: In Grossbritannien will die Wende nicht einsetzten – die Zahl der Neuinfektionen bleibt konstant hoch.
Wie sich zeigt, hat das Vereinigte Königreich keinesfalls einfach Pech: Die prekäre Situation im ehemaligen EU-Land ist die Folge politischer Fehlentscheidungen, welche weit in die Vergangenheit zurückreichen.
Coronavirus: Durchseuchungs-Strategie ist fehlgeschlagen
Während in ganz Europa Mitte März die Alarmglocken schlugen, blieb es in Grossbritannien ruhig: Die Schweiz und zahlreiche mitteleuropäische Länder erliessen einschneidende Schutzmassnahmen und verhängten Ausgangssperren.
Währenddessen verfolgte die britische Regierung eine Durchseuchungs-Strategie: Nur eine hohe Anzahl immunisierter Personen kann die Gesellschaft effizient und nachhaltig schützen, so die grundsätzlich nachvollziehbare Theorie.
Als Mitte März das italienische Militär Leichen aus der Krisenregion Bergamo abtransportierte, zeigten sich die dramatischen Konsequenzen der Pandemie. Während der Bundesrat bereits den Lockdown ausgerufen hatte, reagierte man in Grossbritannien weiterhin nicht auf die steigenden Fallzahlen.
Erst am 23. März, deutlich später als in den meisten europäischen Ländern, wurde in Grossbritannien der Lockdown beschlossen. Bis dahin konnte sich das Coronavirus ungebremst ausbreiten. Die vielen Fälle zu Beginn machen es nun deutlich schwieriger, die Anzahl der Neuinfektionen zu reduzieren.
Nationales Gesundheitssystem wurde kaputt gespart
Das britische Gesundheitssystem steht aufgrund der hohen Fallzahlen an der Kapazitätsgrenze. In der Krise zeigt sich, dass der nationale Gesundheitsdienst NHS nur mangelhaft ausgebaut ist: Seit der Thatcher-Regierung der 1980er werden die Entscheidungen nach marktwirtschaftlichen Kriterien gefällt.
Das Coronavirus gehorcht den Regeln der Marktwirtschaft bekanntlich nicht. Demzufolge hat das Gesundheitssystem grosse Probleme, der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. Wie «The Guardian» berichtet, waren in Nordirland 32 der 33 «Corona-betroffenen» Medizinprodukte nicht mehr vorrätig.
Wie die «Financial Times» berichtet, hatte Grossbritannien grosse Mühe, schnell Testkapazitäten zu schaffen. Das klang vor einigen Wochen noch ganz anders: Damals hatte Jenny Harris von der britischen Gesundheitsbehörde vorgegeben, Tests seien nicht das angemessene Mittel, um die Krise einzudämmen. Erschwerend kommt hinzu, dass dem NHS seit dem Brexit die dringend benötigten ausländischen Fachkräfte davonlaufen.
Gesundheitssystem spielt in der zweiten Liga
Das Vereinigte Königreich muss sich eingestehen, dass das britische Gesundheitssystem nicht in der obersten Liga mitspielt: Den Gesundheitssystemen der Schweiz oder Deutschland gelingt der Umgang mit der Krise deutlich besser. England zeigt aktuell eine der höchsten Übersterblichkeiten: Die Anzahl Todesfälle im langjährigen Vergleich gilt als zuverlässiger Indikator für den Impakt des Coronavirus.
Vergangenen Dienstag überholte Grossbritannien Italien in den Todeszahlen. Während die Anzahl Neuansteckungen in Italien mittlerweile rückläufig ist, bleibt sie im Vereinigten Königreich jedoch konstant. Entgegen Aussagen der britischen Regierung von vergangener Woche dürfte Grossbritannien daher noch nicht «über den Berg» sein.