Delta maximal ernst? Was nun auf Deutschland zukommt
Das Wichtigste in Kürze
- Die Corona-Lage in Deutschland wirkt so entspannt wie lange nicht.
Aber trügt der Schein? Die in Indien entdeckte Virusvariante Delta legt anteilsmässig in Deutschland deutlich zu.
Manche fürchten: Was passiert erst, wenn die Schulen nach den Ferien wieder öffnen? «Delta ist so ernst wie es nur geht», schrieb der US-Epidemiologe Eric Feigl-Ding kürzlich auf Twitter. Dazu Fragen und Antworten.
Wochenlang hatten Berichte des Robert Koch-Instituts (RKI) mit Auswertungen von Stichproben keine merkliche Zunahme des Anteils von Delta erkennen lassen. Das hat sich nach Daten vom Mittwochabend geändert: Es zeigt sich darin eine Verdoppelung des Delta-Anteils im Wochentakt, auf rund 15 Prozent (Woche vom 7. bis 13. Juni). Damit stellt sich ein Tempo ein, das von Virologen befürchtet wurde.
Die absolute Zahl an wöchentlichen Delta-Fällen hat laut RKI seit der 21. Meldewoche zugenommen, von etwa 270 auf rund 470 in der 23. Meldewoche zugenommen. Insgesamt ist die Sieben-Tage-Inzidenz im Land weiter rückläufig und sehr niedrig. Das erklärt sich durch den deutlichen Rückgang der Ansteckungen, die von der noch dominanten Alpha-Variante (Anteil 74 Prozent) verursacht werden. Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, sieht in der Entwicklung keinen Grund zur Panik, hält Wachsamkeit aber für angebracht: Es könnte ein Kipppunkt sein.
Delta vereint nach allem, was bisher bekannt ist, eine deutlich erhöhte Ansteckungsfähigkeit und eine leichte Immunflucht, also die Eigenschaft, den Schutz nach Impfung oder durchgemachter Infektion zu umgehen. Die Botschaft aus der Fachwelt ist aber: Wer vollständig geimpft ist, ist auch bei Delta vor schwerer Erkrankung geschützt. Mit nur einer von zwei Dosen sei der Effekt jedoch nicht so gut.
Nach bisherigen Daten ist Delta die ansteckendste bisher bekannte Corona-Variante: Während für das ursprüngliche Coronavirus angenommen wurde, dass ein Infizierter, wenn keinerlei Corona-Massnahmen getroffen werden, im Mittel rund drei bis vier andere Menschen ansteckt, waren es für die in Grossbritannien entdeckte Variante Alpha bereits rund fünf Ansteckungen. Bei Delta kommen offenbar weitere 40 bis 60 Prozent hinzu. Der Virologe Christian Drosten berichtete von Hinweisen auf noch einmal deutlich erhöhte Viruslasten im Rachen von Delta-Infizierten im Vergleich zu Alpha. Dazu passen Hinweise, wonach die Mutante krankmachender sein könnte.
Zu Beginn der Pandemie erzählten manche Menschen, dass ihr Test negativ blieb, obwohl sie länger mit einem Infizierten in einem Raum waren. Als Alpha vor rund einem halben Jahr in Berlin ankam, hiess es aus einem Gesundheitsamt über Ausbrüche: Hat es einer, haben es alle. Bei Delta scheinen die Ansteckungen noch leichter zu passieren. In Indien wurde Anfang Mai gar empfohlen, auch zu Hause eine Maske zu tragen. Aufmerksamkeit lenkt Epidemiologe Feigl-Ding bei Twitter auf einen Bericht, demzufolge ein Delta-Ausbruch in Australien auf ein Einkaufszentrum zurückgeführt worden sei: Menschen sollen sich dort ohne engen, direkten Kontakt zu einem Infizierten angesteckt haben.
Das RKI teilte auf Anfrage mit, dass solche Berichte generell schwer zu bewerten seien. Es sei ein zentrales Merkmal von Übertragungen über Aerosole (in der Luft schwebende Mini-Tröpfchen), dass sie unbemerkt geschehen und daher eine Zuordnung zu einem bestimmten Kontakt schwierig sei. Flüchtige Kontakte seien auch generell schwer zu erfassen. Das RKI sagt aber auch: «Die hohen Ansteckungsraten in Haushalten und bei Ausbrüchen durch Delta weisen darauf hin, dass Delta noch leichter übertragbar ist als Alpha, auch ohne engen Kontakt.»
Ralf Bartenschlager, Präsident der Gesellschaft für Virologie, äusserte sich zwar nicht zum australischen Bericht, erklärte aber auf Anfrage, man könne grundsätzlich sagen, dass «eine Ansteckung auch ohne direkten, engen Kontakt möglich ist». «Eine mögliche Übertragung im Rahmen eines «Flüchtigkeitskontakts» ist zum Beispiel ein schlecht durchlüfteter Aufzug, in dem eine infizierte Person mit hoher Viruslast in der Ausatemluft gefahren ist.» Hier könne sich eine Aerosolwolke sehr lange halten und eine Infektion stattfinden, ohne dass es zu einem direkten Kontakt gekommen ist.
Ob es zu einer Ansteckung kommt, hänge aber immer von mehreren Parametern ab. Wie zum Beispiel: Ist der Infizierte gerade besonders ansteckend? Wie viel Virus setzt die Person frei - spricht sie laut oder leise, schreit oder singt sie? Wie gut ist die Durchlüftung?
Fachleute befürchten, dass Delta gerade in diesen Gruppen Chancen nutzen dürfte. Erst rund ein Drittel der Bevölkerung hierzulande ist vollständig geimpft - das heisst, es gibt noch viele Millionen Menschen, die nicht oder nur teils vor Delta geschützt sind. Für Kinder unter 12 Jahren gibt es bislang keinen zugelassenen Impfstoff, für die 12- bis 18-Jährigen empfiehlt die Ständige Impfkommission in Deutschland die Immunisierung nur bei Vorerkrankung.
Modellierer befürchten entsprechend, dass die Variante sich bei ungeimpften Schülerinnen und Schülern ausbreitet, wenn die Schulen zum Präsenzunterricht ohne Schutzmassnahmen zurückkehren sollten. Das dürfte angesichts der derzeit häufigen Forderung, Schulen in der Pandemie offen zu halten, einen Konflikt bedeuten. In England, wo Delta die Fallzahlen wieder steigen lässt, wurden Schulausbrüche verzeichnet. Ebenso in Israel, wo die Maskenpflicht für Schüler in zwei Ortschaften wieder verhängt wurde, nachdem sie wenige Tage zuvor aufgehoben worden war.
Laut dem Modell eines Teams um Kai Nagel von der TU Berlin scheint das keine gute Idee zu sein. Wie die Wissenschaftler in einem aktuellen Bericht schreiben, würden sich demnach bei Schulöffnungen ohne Schutzmassnahmen sehr viele Schülerinnen und Schüler anstecken, «was schlussendlich auch zu einem Anstieg der Krankenhauszahlen führen würde». Dies sei darauf zurückzuführen, dass nicht alle Erwachsenen sich impfen lassen wollen oder können. In England zeigt sich laut Drosten, dass das Virus nicht nur an Schulen umgeht, auch in der Gastronomie habe es mittlerweile Ausbrüche gegeben.
Gegen das Laufenlassen des Virus spricht auch der Schutz von Kindern und Jugendlichen selbst: Sie sind nicht völlig vor Spätfolgen gefeit. Würde es in den jungen Altersgruppen zu wesentlich höheren Inzidenzen kommen als bisher, gäbe es auch mehr schwere Krankheitsfälle - trotz des eigentlich sehr geringen Anteils an solchen Verläufen.
Das ist noch schwer abzuschätzen. Es gibt zumindest die Hoffnung, dass Kinder und Jugendliche durch ein geimpftes Umfeld etwas abgeschirmt werden können.
Das RKI erklärte zum künftigen Umgang mit Schul- und Kita-Ausbrüchen, in Bezug auf Delta würden die verfügbaren Daten, etwa zur Übertragbarkeit und Wirksamkeit der Impfungen «natürlich kontinuierlich überprüft und Empfehlungen gegebenenfalls angepasst, wie im Frühjahr auch schon bei Alpha geschehen».
Auch geimpften Lehrkräften und Eltern droht nach Kontakten etwa zu infizierten Kindern Quarantäne: Bei mit Varianten Infizierten empfehle man «grundsätzlich immer Quarantäne für geimpfte und genesene Kontaktpersonen», hiess es vom RKI. Eine Ausnahme sei Alpha.
Deutschland könnte erst einmal von den Sommerferien und der nun sehr niedrigen Sieben-Tage-Inzidenz profitieren, sagen manche. Aber ein ruhiger Sommer ist keineswegs sicher. «Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Delta-Variante im Sommer ausgiebig zirkulieren wird», hiess es von der EU-Gesundheitsbehörde ECDC am Mittwoch. Schätzungsweise werde Delta bis Ende August einen Anteil von 90 Prozent an den Corona-Infektionen in der EU und Norwegen, Island und Liechtenstein ausmachen. Mahnungen beziehen sich auch auf Einschleppungen durch Reiserückkehrer und die Fussball-EM; gewarnt wurde etwa vor Delta-Einschleppungen durch Trips von Fans nach London.
Jetzt nachlässig zu werden, wäre nicht gut. Bartenschlager betont: Auch gegen die Delta-Variante seien die Regeln zum Abstandhalten, Hygiene, Alltag mit Maske, Nutzung der Corona-Warn-App und Lüften wirksam und böten einen Schutz vor Ansteckung. «Man muss sie aber noch konsequenter einhalten, da diese Variante noch leichter übertragen wird.» Drosten schloss nicht aus, dass wieder Kontaktmassnahmen nötig werden könnten. Ausserdem gelten schnelles Impfen und vor allen Dingen vollständiges Impfen als wichtig.
Laut dem bekannten indischen Virologen T Jacob John dürfte der Rückgang der Fälle hauptsächlich eine natürliche Ursache haben: So habe sich das Virus bei der heftigen zweiten Welle schnell verbreitet, wodurch immer weniger empfängliche Menschen übrig blieben. Dadurch sei die Welle abgeflaut. John geht basierend auf Berechnungen davon aus, dass während der beiden bisherigen Wellen in Indien insgesamt mindestens eine Milliarde der mehr als 1,3 Milliarden Menschen im Land Corona gehabt und dadurch einen gewissen Schutz hätten. Auch Drosten sagte, dass wohl hauptsächlich einsetzende Herdenimmunität in Indien zum Rückgang geführt habe, ausserdem erwähnte er die kurzzeitig getroffenen strengen Massnahmen.