Neue russische Angriffswelle in der Ukraine - Ultimatum verstreicht
Russische Truppen haben mit verstärkten Angriffen im Osten der Ukraine eine neue Phase des Krieges eingeleitet.
Das Verteidigungsministerium in Moskau berichtete am Dienstag von Luftangriffen auf mindestens 60 Ziele. Schwere Kämpfe wurden auch im südukrainischen Gebiet Saporischja gemeldet. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verurteilte das russische Vorgehen und sagte der Ukraine die Finanzierung direkter Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu. Die USA gehen davon aus, dass die Angriffe erst der Auftakt von grösseren Offensivaktionen Russlands sind. UN-Generalsekretär António Guterres forderte rund um das orthodoxe Osterfest am kommenden Wochenende eine Waffenruhe.
Nach ukrainischen Angaben läuft die seit mehreren Tagen erwartete Offensive der Russen seit Montag. Präsident Wolodymr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft: «Wir können jetzt feststellen, dass die russischen Truppen die Schlacht um den Donbass begonnen haben, auf die sie sich seit langem vorbereitet haben.» Russland vermied den Begriff Offensive. Aussenminister Sergej Lawrow bestätigte aber, dass die nächste Phase der «Spezial-Operation» begonnen habe.
Besonders dramatisch ist die Lage weiterhin in der schwer zerstörten Hafenstadt Mariupol. Russland forderte Hunderte Kämpfer in einem Stahlwerk noch einmal zur Kapitulation auf. Diese weigerten sich jedoch. Widersprüchliche Angaben gab es in russischen Medien über die Nutzung eines Fluchtkorridors von dem Gelände. «Niemand hat den rund um Asovstal gebildeten neuen humanitären Korridor für Zivilisten genutzt», sagte Alexej Nikonorow, ein Sprecher der prorussischen Separatisten, der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Das russische Fernsehen hingegen berichtete, dass 120 Zivilisten das Werk verlassen hätten. Nach russischen Angaben sollen sich rund 2500 Kämpfer in dem Werk verschanzt haben. Zudem sollen dort viele Zivilisten Zuflucht gesucht haben.
Die Ukraine hatte bereits am Wochenende ein Ultimatum verstreichen lassen. Russland drohte daraufhin mit «Vernichtung». Seit dem vor knapp zwei Monaten begonnenen Angriff Russlands auf die Ukraine ist Mariupol ein Zentrum der Kämpfe. Russland will die strategisch wichtige Stadt komplett unter Kontrolle bringen.
Dem US-Verteidigungsministerium zufolge ist Russland noch dabei, seine logistischen Kapazitäten auszubauen und auch Einheiten von ausserhalb der Ukraine ins Land zu holen. Die Kampfkraft des russischen Militärs - mit Blick auf Truppen und Ausrüstung - liege inzwischen bei etwa 75 Prozent dessen, was Moskau zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine zur Verfügung hatte, sagte ein hochrangiger Beamter des Pentagons.
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu warf dem Westen vor, mit seinen Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg in die Länge zu ziehen. «Die USA und die von ihnen kontrollierten westlichen Länder tun alles, um die militärische Spezial-Operation zu verzögern», sagte Schoigu der Agentur Interfax zufolge in Moskau. Russlands Streitkräfte würden «ihren Plan zur Befreiung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk konsequent erfüllen».
Als Antwort auf die Ausweisung Dutzender russischer Diplomaten hat Russland mehr als 30 Diplomaten aus den Benelux-Ländern und Österreich zu «unerwünschten Personen» erklärt. Eine Reaktion auf die Ausweisung von 40 russischen Diplomaten aus Deutschland Anfang April steht indes noch aus.
In Deutschland ging die Debatte um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine weiter. Unionspolitiker, aber auch Vertreter der Ampel-Parteien Grüne und FDP werfen dem Bundeskanzler Zaudern vor. Scholz erklärte am Abend, Rüstungslieferungen der deutschen Industrie an die Ukraine zu finanzieren. Die Ukraine habe eine Auswahl getroffen, Deutschland werde das notwendige Geld für den Kauf geben. Es gehe um Waffen «mit erheblicher Auswirkung» und «Bestandteile von Artillerie». Von einer direkten Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland sprach Scholz nicht. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte bei einem Besuch in der Ukraine schnellere Finanzhilfen der EU für das Nachbarland.
Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Bundesbürger ist laut «Trendbarometer» von RTL und n-tv für die Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät. Deutschland hat bisher unter anderem Panzerfäuste, Luftabwehrraketen und Maschinengewehre geliefert, ausserdem Fahrzeuge, Nachtsichtgeräte und Schutzausrüstung. Die Ukraine fordert aber auch schwere Waffen wie Kampfpanzer, Artilleriegeschütze und Kampfhubschrauber.
Im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es keine trennscharfe Unterscheidung zwischen leichten und schweren Waffen. Als eine Kategorie kann die Grösse der Munition («Kaliber») gelten, die Rückschluss auf die Wirkmächtigkeit der Waffe erlaubt - ausserdem die Frage, ob die Waffe noch am Körper getragen werden kann («Panzerfaust») oder auf einem Fahrgestell («Artilleriegeschütz») montiert werden muss.
Angesichts der schweren Angriffe wird die Lage für die Menschen in der Ukraine nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) immer schlimmer. Die UN-Organisation rechnet in dem Land inzwischen mit sechs Millionen Bedürftigen. Fast fünf Millionen Menschen sind inzwischen ins Ausland geflohen, davon mindestens 360 000 Menschen nach Deutschland.