Politik Erdogans in Trümmern? Türkei im Wahlkampf getroffen
Die Menschen in der Türkei stehen nach dem Erdbeben unter Schock. Das Beben trifft die Türkei mitten im Wahlkampf – mit noch unabsehbaren Folgen für die Politik.
Der Blick des türkischen Präsidenten wirkt stechend. Umringt von seinen Ministern holt er gegen seine Kritiker aus: Es gebe welche, die die Erdbeben-Katastrophe politisch ausnutzen wollten, sagt er am Donnerstag. Aber «seine Bürger» würden diesen Stimmen keinen Glauben schenken. Der Seitenhieb gilt ganz offensichtlich der Opposition. Deren Chef, Kemal Kilicdaroglu, wirft Erdogan vor, versäumt zu haben, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten.
Die Türkei befindet sich im Wahlkampf – am 14. Mai soll eigentlich abgestimmt werden. Erdogan, der auf eine Wiederwahl hofft, hatte angekündigt, die eigentlich für Juni geplanten Parlaments- und Präsidentenwahlen auf Mai vorzuziehen. Anfang kommender Woche sollte eigentlich der Gegenkandidat der Opposition bekanntgegeben werden.
Mitten in dieser Phase kommt es zur schlimmsten Katastrophe des Jahrzehnts für das Land mit Tausenden Toten. Die Menschen stehen unter Schock.
Kann der Wahltermin gehalten werden?
Selbst ob die Wahlen überhaupt wie angekündigt im Mai stattfinden können, ist zurzeit unklar. Er gehe angesichts der Zerstörungen nicht davon aus, sagte Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, der Deutschen Presse-Agentur. In drei Monaten würden voraussichtlich noch zahlreiche Menschen in den betroffenen Gebieten in Zelten oder Behelfsunterkünften leben. Eine Wahl unter solchen Bedingungen abzuhalten, sei schwer vorstellbar. Die politischen Auswirkungen des Bebens seien schlicht noch nicht absehbar.
Ungeachtet dessen hielt der Burgfrieden zwischen Regierung und Opposition nicht lange. War Erdogan in den ersten Tagen auffällig still, so reiste er am Mittwoch ins Erdbebengebiet und holte zum Gegenschlag aus: Er warf denen, die kritisieren, dass zu spät Hilfe angekommen sei, Verbreitung von Lügen vor. Kein Land könne auf solch eine Katastrophe vorbereitet sein, sagte er. Tatsächlich ist das Ausmass unbeschreiblich.
Die Hilfe lief aber nur schleppend an. In Hatay fehlt es Augenzeugen zufolge noch immer an schwerem Gerät, um die Menschen aus den Trümmern zu holen. Der inhaftierte prokurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas sieht dahinter auch ein strukturelles Problem. Erdogan habe alle Macht an sich gerissen, kritisierte er am Donnerstag auf Twitter. Alle Entscheidungen gingen über Erdogan – ein Nadelöhr.
Warnungen vor Baumängeln gab es seit Jahren
Hinzu kommen verstörend anmutende Massnahmen. Twitter wurde am Mittwoch zwischenzeitlich blockiert – dabei ist der Dienst für manche Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zurzeit überlebenswichtig. Standorte von in Trümmern verschütteten Menschen werden darüber geteilt. Oppositionelle und Prominente kritisierten das scharf. Die Chefin der nationalkonservativen Oppositionspartei Iyi, Meral Aksener, schrieb an die Regierung gerichtet: «Vor wem und warum habt ihr Angst? Schämt Euch.»
Dass der Gebäudestand in den Erdbebengebieten schlecht ist und die Häuser dringend erdbebensicher saniert werden müssen – davor warnen Experten seit Jahren. Der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar kritisierte, Erdogan habe auch Warnungen von Experten in den Wind geschlagen und sie als Terroristen bezeichnet. Der Staat sei «gelähmt», sagte er auf dem Youtube-Kanal seine Mediums «Özgürüz». «Das Ein-Mann-Regime, das er (Erdogan) geschaffen hat, ist unter den Trümmern vergraben».
Ob Erdogan von dem Erdbeben profitiere oder nicht oder ob die Wahlen verschoben würden, solche Fragen erreichten ihn seit Tagen, schreibt Analyst Murat Yetkin. «Seien wir ehrlich, wenn die Menschen diese Fragen hören, werden sie verbittert.» Fakt sei: Die Türkei erlebt mit dem Erdbeben in Kahramanmaras einen Alptraum.»