Selenskyj: Brauchen Waffen gegen Russen-Offensive
Russland hat nun mit der erwarteten Grossoffensive begonnen. Das Ziel ist die Eroberung der Millionenstadt Charkiw.
Das Wichtigste in Kürze
- Im Mai hat die russische Grossoffensive gestartet.
- Putin will die Millionenstadt Charkiw erobern.
- Selenskyj fordert weiterhin Unterstützung aus dem Westen an.
Die russische Armee scheint die von den ukrainischen Verteidigern erwartete Grossoffensive im Mai begonnen zu haben: Über die Landesgrenze hinweg greifen starke russische Kräfte an – mit dem operativen Ziel, die ostukrainische Millionenstadt Charkiw zu erobern.
Die Offensive sei nicht überraschend gekommen, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache am Freitagabend. «Wir kennen die Stärke der Truppen des Besatzers und sehen ihren Plan», sagte er.
«Unsere Soldaten, unsere Artillerie und unsere Drohnen reagieren auf die Besatzer.» In einem ersten Ansturm konnten die russischen Einheiten vier kleinere Dörfer unmittelbar hinter der Grenze erobern.
USA schickt Paket mit Munition in die Ukraine
Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als zwei Jahren gegen den russischen Angriffskrieg. Um den jüngsten Grossangriff erfolgreich abzuschlagen, benötige das Land nun Unterstützung aus dem Ausland. «Was wirklich hilft, sind die Waffen, die tatsächlich in die Ukraine gebracht werden, und nicht nur angekündigte Pakete», sagte Selenskyj.
Der ukrainische Staatschef dankte US-Präsident Joe Biden für das neueste Hilfspaket der US-Regierung. Das Aussenministerium in Washington teilte am Freitag mit, das Paket habe einen Umfang von rund 400 Millionen US-Dollar (rund 371 Millionen Euro).
Es beinhalte unter anderem Munition für das Luftabwehrsystem Patriot, weitere Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars mit Munition sowie Stinger-Flugabwehrraketen und Artilleriemunition mit den Kalibern 155 und 105 Millimeter.
«Das ist es, was wir brauchen», sagte Selenskyj. Nunmehr müsse an der Logistik gearbeitet werden, um alle Waffen so schnell wie möglich an die Front zu bringen.
Nach einer monatelangen innenpolitischen Hängepartie hatte der US-Kongress Ende April milliardenschwere Hilfen für die Ukraine gebilligt – und damit den Weg für neue Waffenlieferungen freigemacht. Das Gesetz sieht Hilfen im Umfang von rund 61 Milliarden US-Dollar (57 Milliarden Euro) für Kiew vor.
Die US-Regierung hatte die Freigabe des Geldes vom Parlament lange und vehement gefordert. Die vorherigen US-Mittel für Ukraine-Hilfen waren Ende des vergangenen Jahres ausgelaufen. Neue Unterstützung aus Washington blieb damit über Monate weitgehend aus, die ukrainischen Truppen mussten unter anderem wegen Munitionsmangels an einigen Frontabschnitten den Rückzug antreten.
Nach der Freigabe neuer Mittel vor etwa zweieinhalb Wochen brachte die US-Regierung bereits mehrere milliardenschwere Pakete mit neuer Militärausrüstung für die Ukraine auf den Weg.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen das Land haben die Vereinigten Staaten nach Pentagon-Angaben militärische Hilfe in Höhe von rund 50,6 Milliarden US-Dollar (rund 47 Milliarden Euro) für Kiew bereitgestellt.
US-Regierung beobachtet russischen Angriff bei Charkiw mit Sorge
Die US-Regierung beobachtet den neuen russischen Grossangriff nahe der ukrainischen Millionenstadt Charkiw mit Sorge. «Wir haben damit gerechnet, dass Russland eine Offensive gegen Charkiw starten würde, und diese scheint nun begonnen zu haben», sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Freitag.
In den Monaten nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine vor über zwei Jahren habe Russlands Militär bereits verzweifelt versucht, die Stadt einzunehmen, was nicht gelungen sei.
«In der Tat war es vor allem das Scheitern der Einnahme Charkiws, das Herrn Putin dazu veranlasste, seine Truppen über die Grenze zurückzuziehen», sagte Kirby mit Blick auf den russischen Präsidenten. Das aktuelle Vorgehen des russischen Militärs dort sei daher «sehr interessant und sicherlich besorgniserregend».
Medwedew droht London und Paris mit Gegenangriffen
Der frühere russische Präsident und heutige Vize-Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, drohte Grossbritannien und Frankreich mit drastischen Gegenschlägen im Falle ukrainischer Angriffe mit britischen oder französischen Marschflugkörpern.
Derartige Angriffe auf russisches Gebiet würden nicht «von Idioten in bestickten Gewändern geleitet, sondern von Briten und Franzosen», schrieb Medwedew am Freitag auf Telegram. Mit den «bestickten Gewändern» spielte er auf die traditionelle Tracht der Ukrainer an.
Die Antwort auf solche Angriffe werde «unter Umständen» nicht gegen Kiew gerichtet sein, drohte er. «Und das nicht nur mit konventionellem Sprengstoff, sondern auch mit Spezialmunition.»
Dies sollten auch die «nicht vollständig ausgebildeten Idioten Seiner Königlichen Hoheit» verstehen, sagte der für polemische Äusserungen bekannte Politiker an Grossbritannien gerichtet.
Der britische Aussenminister David Cameron hatte der Ukraine vor einigen Tagen bei seinem Besuch in Kiew erneut Unterstützung zugesichert. Der britischen Nachrichtenagentur PA zufolge betonte er während seiner Reise, es liege an Kiew zu entscheiden, wie die Ukrainer gelieferte Waffen einsetzen.
Russland habe die Ukraine angegriffen und die Ukraine habe das Recht zurückzuschlagen. Auf die Frage, ob dies Ziele in Russland einschliesse, sagte er demnach: «Das ist eine Entscheidung für die Ukraine und die Ukraine hat dieses Recht.»
Das russische Aussenministerium hatte bereits ebenfalls gegen diese Aussagen Camerons protestiert und mit Gegenschlägen gedroht. Sowohl Frankreich als auch Grossbritannien unterstützen die Ukraine mit der Lieferung von Marschflugkörpern.
Medwedew galt in seiner Amtszeit als russischer Präsident (2008 bis 2012) als moderater und liberaler Politiker. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vor mehr als zwei Jahren vertritt er extreme Positionen.