Steuert Grossbritannien in ein Corona-Desaster?
Das Wichtigste in Kürze
- Der britische Premierminister Boris Johnson vergleicht die grosse Corona-Bedrohung mit einem Feind auf dem Schlachtfeld.
«Wir sind in einen Krieg gegen diese Krankheit verwickelt, den wir gewinnen müssen», schmetterte Johnson im Kabinett los.
Allerdings: Er kämpft mit ziemlich stumpfen Waffen. In seiner Strategie, das Coronavirus abzuwehren, machte er nach Meinung vieler Experten gleich am Anfang einen grossen Fehler. Ausserdem ist der staatliche Gesundheitsdienst NHS seit Jahren völlig überlastet und marode. Ist auf diese Weise ein Krieg gegen einen unsichtbaren Feind zu gewinnen?
In Grossbritannien mangelt es an Akutbetten und vor allem an Beatmungsgeräten, die vielen Covid-19-Lungenkranken das Leben retten könnten. In seiner Not - erst vor wenigen Tagen - fragte Johnson sogar bei Autobauern nach, ob sie nicht auch solche Apparaturen bauen könnten. Derzeit hat der NHS nur 4000 Geräte für Erwachsene und 900 für Kinder. Nach einem Bericht der BBC braucht der NHS beim schlimmsten Szenario noch einmal 20.000 solcher Beatmungsgeräte.
Auch Ärzte und Pflegepersonal fehlen; die Unsicherheiten in Brexit-Zeiten haben viele von ihnen aus dem Land getrieben. Der vor allem mit Steuermitteln finanzierte NHS wurde kaputt gespart. Einen Termin bei einem Hausarzt zu bekommen, erfordert viel Geduld. Operationen müssen wegen Personalnot immer wieder verschoben werden. Und im Winter, wenn die Grippefälle hinzukommen, steht der NHS regelmässig kurz vor dem Kollaps. Sogar Polizeifahrzeuge mussten schon Patienten in Kliniken bringen, weil es auch an Rettungswagen fehlte. Die Gesundheitsversorgung war daher ein zentrales Thema beim Brexit und bei den Wahlen im vergangenen Dezember.
«Ich traue dem NHS überhaupt nicht, die sind seit mehr als zehn Jahren total unterfinanziert», sagte Felix Simon, der angesichts der Coronakrise seine Sachen gepackt hat und jetzt in der Umgebung von Frankfurt vorsichtshalber zwei Wochen lang in Selbstisolation lebt. Anschliessend möchte er zu seinen Eltern und Grosseltern in der Nähe. Sein Onkel ist Mediziner in München und hat bereits Patienten mit dem neuartigen Coronavirus behandelt. «Er hat mir dringend geraten, Grossbritannien zu verlassen», berichtete Simon, der seit 2016 in England lebte und Doktorand an der renommierten Universität Oxford ist. Fast alle seine Freunde hätten Grossbritannien verlassen.
Im Vereinigten Königreich haben sich nach offiziellen Schätzungen bereits Zehntausende Menschen mit dem Erreger angesteckt. Jeden Tag informiert die Regierung nun auf einer Pressekonferenz über die Lage. Kritiker warfen Johnson nach seinen ersten Äusserungen vor, mit viel zu laschen Massnahmen auf die Pandemie zu reagieren und nicht den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu folgen. Verschiedene Prognosen gingen von etwa 200.000 bis 500.000 Toten im Land aus. Die Regierung wollte mit kleinen Schritten verhindern, dass der Ausbruch zu stark unterdrückt wird und im Herbst mit voller Wucht zurückkommt.
Schliesslich machte Johnsons Team eine Kehrtwende und erhöhte die Schutzmassnahmen - inzwischen wird praktisch von allen sozialen Kontakten abgeraten und Home Office empfohlen. Kein Bier mehr im Pub trinken und die Familie soll samt Oma und Opa auf den Sonntagsbraten im Restaurant verzichten. Kultureinrichtungen wurden geschlossen. Wer wegen seines hohen Alters oder Vorerkrankungen einer Risikogruppe angehört, muss sich in eine dreimonatige Selbstisolation begeben. Am Freitag schliessen alle Schulen im Land. In der Millionen-Metropole London wird mit einer baldigen Ausgangssperre gerechnet.
Ziel sei es nun, «die Zahl der Toten unter 20.000 zu halten», sagte der Mediziner Patrick Vallance, der die Regierung berät. «Das wäre ein gutes Ergebnis.» Dennoch sei das natürlich immer noch schrecklich. Kritiker fürchten jedoch, dass Johnsons Schlingerkurs wertvolle Zeit im Kampf gegen das Virus gekostet haben könnte.