Ukraine-Krieg: «Kann Glück sein, dass beim AKW kein Unfall geschah»
Seit Tagen wird das AKW Saporischschja beschossen. Beide Parteien im Ukraine-Krieg schieben sich die Schuld zu. Russland-Experten sehen dahinter eine Strategie.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Kernkraftwerk Saporischschja steht zurzeit unter Beschuss.
- Russland und die Ukraine machen sich gegenseitig verantwortlich dafür.
- Experten sehen im Angriff auf das AKW eine Strategie Russlands.
In den vergangenen Tagen wurde das grösste Atomkraftwerk Europas Saporischschja mehrfach mit Raketen beschossen. Bisher wurden Teile der Anlage beschädigt und ein Reaktor musste ausgeschaltet werden. Russland und die Ukraine geben sich dafür gegenseitig die Schuld.
Derweil sorgen sich international Behörden um eine mögliche Atomkatastrophe. Angesichts des Beschusses hat der ukrainische Präsident Selenskyj vor einer Situation wie in Tschernobyl gewarnt. Währenddessen hat Russland nach eigenen Angaben am Freitag Flugabwehreinheiten um das Atomkraftwerk stationiert.
Ukraine-Krieg: «Russland nutzt AKW als Schutzschild»
Dass es bisher zu keinem AKW-Unfall gekommen ist, sei aber nicht unbedingt geplant gewesen. ETH-Nuklearexperte Stephen Herzog sagt zu Nau.ch: «Das könnte auch einfach nur Glück sein.»
Doch: Wenn es im AKW zu einem Unfall kommen würde, wäre auch Russland davon betroffen. Wo liegt also der Nutzen des Beschusses?
«Ich denke, es ist Dummheit und Strategie», so Herzog.
Russland-Experte Ulrich Schmid ergänzt gegenüber Nau.ch: «Es scheint, dass die russische Armee das AKW als Schutzschild für die eigenen Artilleriestellungen im Ukraine-Krieg verwendet.»
«Das AKW ist umkämpft, weil es ein wichtiger Stromproduzent für die Ukraine und natürlich die von Russland besetzten Gebiete ist.» Es habe schon Informationen gegeben, dass die Russen den Ukrainern Strom aus dem besetzten AKW verkaufen wollten, so Schmid.
Herzog sieht es ähnlich und erklärt weiter: «Saporischschja hat eine strategisch sehr wichtige Lage am Fluss Dnepr.» Es sei daher nicht verwunderlich, dass das Gebiet derart umkämpft ist.
«Schockierend ist der Beschuss des Atomkraftwerks durch das russische Militär», so Herzog. «Bislang wurde das AKW durch den Beschuss beschädigt. Die Menschen in der Umgebung waren tagelang ohne Strom.»
Schmid bezweifelt eine baldige Inspektion durch die IAEA
Auch die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zeigt sich äusserst besorgt über die aktuelle Lage. Gemäss dem Chef der IAEA, Rafael Grossi, bestehe derzeit «eine sehr reale Gefahr einer nuklearen Katastrophe».
Die Behörde versucht, unbewaffnete internationale Militärbeobachter zum AKW zu schicken. Dazu braucht es jedoch eine Unterstützung beider Parteien im Ukraine-Krieg. Experte Schmid glaubt nicht, dass es bald einen Zugang zum Atomkraftwerk geben wird.
Das Atomkraftwerk liegt in der südukrainischen Stadt Enerhodar. Im März wurde es von Russlands Truppen besetzt. Saporischschja wird allerdings weiterhin vom ukrainischen Staatskonzern Energoatom betrieben.