Vatikanstadt: Schwere Vorwürfe gegen emeritierten Papst
Das Wichtigste in Kürze
- Der Ex-Papst Benedikt XVI. ist tolerierte den sexuellen Missbrauch von Kindern.
- Dies heisst es in einem Gutachten einer Münchner Anwaltskanzlei.
Eine Münchner Anwaltskanzlei hat Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München und Freising aufgearbeitet. Nun erhebt sie Vorwürfe gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI.
Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger habe als Münchner Erzbischof Missbrauchstäter «mit hoher Wahrscheinlichkeit» wissentlich in der Seelsorge eingesetzt. So beurteilt es die vom Bistum beauftragte Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). In insgesamt vier Fällen werfen ihm die Gutachter Fehlerverhalten vor.
Mindestens 497 Kinder und Jugendliche sind laut der Studie in dem katholischen Bistum von Priestern und Diakonen sexuell missbraucht worden. Dies zwischen 1945 und 2019. Mindestens 235 mutmassliche Täter gab es laut der Anwaltskanzlei - darunter 173 Priester.
Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich grösseren Dunkelziffer auszugehen. Gutachter Ulrich Wastl nannte dies eine «Bilanz des Schreckens». Der Sprecher der Opferinitiative «Eckiger Tisch», Matthias Katsch, sprach in einer Stellungnahme von einer «historischen Erschütterung» der katholischen Kirche.
«Scham und Bedauern»
Der heute 94 Jahre alte Benedikt bedauert nach den Worten seines Privatsekretärs Georg Gänswein den Missbrauch von Kirchenbediensteten an Minderjährigen. Benedikt drücke wie bereits mehrmals zuvor «seine Scham und sein Bedauern» aus. Er erneuere «sein Gebet für alle Opfer», zitierte das Medienportal «Vatican News» Gänswein am Donnerstag.
Benedikt wolle das Gutachten in den kommenden Tagen studieren und prüfen, erklärte Kurienerzbischof Gänswein weiter. Für den Vatikan kündigte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni, ebenfalls an, sich die Ergebnisse genau anschauen zu wollen.
In dem fast 2000-seitigen Gutachten heisst es, 40 Kleriker seien auch nach Missbrauchsfällen weiterhin in der Seelsorge tätig gewesen. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach «einschlägiger Verurteilung», wie der Jurist Martin Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern «gebotene Massnahmen mit Sanktionscharakter» unterblieben.
Verantwortliche in München
Dafür verantwortlich sind aus Sicht der Anwälte vor allem die Münchner Bischöfe und Generalvikare. Somit ist auch der spätere Papst Benedikt XVI., der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising war, verantwortlich.
Fehlverhalten in vier Fällen halten die Anwälte Ratzinger vor. In zwei davon soll er Priester, bei denen er «überwiegend wahrscheinlich» von ihrer Missbrauchsvergangenheit wusste, nach Bayern geholt haben. In allen Fällen habe Benedikt ein Fehlverhalten strikt zurückgewiesen. Seine 82 Seiten lange Stellungnahme ist im Anhang des Gutachtens zu lesen.
In einem dieser Fälle geht es um einen Priester, der im Ausland rechtskräftig wegen Missbrauchs verurteilt worden war. Zudem geht es um den bekannten Fall eines Priesters aus Essen, der trotz Vorfällen wieder als Seelsorger mit Kindern arbeitete.
Sagte Ratzinger nicht die Wahrheit?
Besonders brisant: Die Gutachter gehen davon aus, dass Ratzinger in Bezug auf die Fälle nicht die Wahrheit gesagt hat. Denn laut der Studie legt ein Sitzungsprotokoll nahe, dass er 1980 sehr wohl bei dem heiklen Treffen dabei war. Bei dem beschlossen wurde, dass der Priester nach Bayern übersiedeln soll.
Der Geistliche missbrauchte dort später erneut Kinder und wurde dafür rechtskräftig verurteilt. Der Jurist Wastl sagte, er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für «wenig glaubwürdig».
Auch Ratzingers direktem Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Dem amtierenden Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom.
Selbst bis heute wohl nichts geändert
Das Gutachten stellt der katholischen Diözese insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein «Paradigmenwechsel» mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Pusch. «Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden.»
Kardinal Marx zeigte sich in einer ersten Stellungnahme «erschüttert und beschämt». Gespräche mit Betroffenen hätten bei ihm dazu geführt, seine Kirche heute in einem anderen Licht zu sehen: «Für mich haben die Begegnungen mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs eine Wende bewirkt. Sie haben meine Wahrnehmung der Kirche verändert und verändern diese auch weiterhin», sagte Marx.
Als heutiger Erzbischof von München und Freising fühle er sich «mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten». Er bitte «im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das Leid, das Menschen im Raum der Kirche zugefügt wurde».
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, warf der katholischen Kirche nach der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens «kalten Pragmatismus» vor. Auch nach zehn Jahren im Amt habe ihm das Gutachten fast die Sprache verschlagen. Dies sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Irme Stetter-Karp, die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken - der Vertretung der sogenannten Laien - schrieb in einer Mitteilung: «Auch im Jahr 2022 heisst die bittere Realität: Das System der Vertuschung, des Vergessens und der schnellen Vergebung ist nicht aufgebrochen worden.»