Die Schweiz hat ihr eigenes Coronavirus
Es gibt nicht nur britische oder brasilianische Varianten des Coronavirus – sondern auch Schweizer. Nur redet kaum jemand darüber.
Das Wichtigste in Kürze
- Britische, brasilianische – und schweizerische Varianten des Coronavirus?
- Die Mutationen von Sars-Cov-2 werden längst penibel beobachtet.
- Die wenigsten sind bis jetzt aber wirklich relevant geworden.
Es ist vor allem das «britische» Coronavirus, das die Schweiz zurzeit beschäftigt. Es prägt die Strategie des Bundesrats gegen das Coronavirus massgeblich. Auch die Varianten aus Südafrika und Brasilien haben schon die Runde gemacht.
Als letzte Woche auch noch ein finnisches Coronavirus gefunden wurde, wurde es vielen zu bunt. Hört denn das gar nie auf, kommt da bald jeder mit seinem Virus und warum hat die Schweiz noch keins? Ja, jein und hat sie doch. Die «gute» Nachricht ist nämlich: Die Schweiz hat bereits ihr eigenes Virus – beziehungsweise sogar mehrere.
Tausend Mal mutiert – meist ist nichts passiert
Der Stammbaum des neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 ist mittlerweile so komplex, dass er europäischen Adelshäusern Konkurrenz macht. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich ein Virus asexuell fortpflanzt. Das macht die Sache jedoch keineswegs einfacher. Denn so ist bei der Abstammung die Vermutung eher die Regel als die Ausnahme.
Je nach Klassifikations-Schema kommen mittlerweile mehrere Tausend Varianten zusammen. Zusätzlich verkompliziert wird die Sache dadurch, dass für die Benamsung keine einheitliche Methode existiert.
So gibt es die 8 «Kladen» von GISAID, einer Initiative, die sich eigentlich um Vogelgrippe-Daten kümmert. Die spezifisch fürs Coronavirus entwickelte britische Software «Pangolin» teilt die Viren in alphanumerisch geordnete Abstammungslinien ein. Von dort stammt die Bezeichnung B.1.1.7 für das britische Virus. Das US-schweizerische Web-Tool «Nextstrain» schliesslich spricht ebenfalls von «Kladen», aber deren 11.
Die Schweizer Linien des Coronavirus
Als «originales» Virus, oder zumindest sehr nahe daran, gilt WIV04/2019. Es ist bei GISAID in der S-Klade, nach Pangolin in der A-Linie und bei Nextstrain in der 19B-Klade. Um dem Zahlen- und Buchstabensalat aus dem Weg zu gehen, nennt man viele Varianten nach dem Ort ihres ersten Auftretens. So gibt es bei Pangolin vier «Schweizer Linien», dazu aber auch einige, die die Schweiz mit anderen Ländern teilt.
So ist B.1.1.211 eine französisch-schweizerisch-britisch-belgische Linie. B.1.128 teilen wir mit der Demokratischen Republik Kongo – obwohl es heute zu 93 Prozent in Kanada vorkommt. Im Sommer dominant war in der Schweiz B.1.177 (nicht B.1.1.7), das von Spanien aus Europa eroberte. Ein Unikat ist dagegen C.5: Die ursprünglich B.1.1.1.5 genannte Schweizer Linie kommt fast ausschliesslich in der Schweiz vor.
Schweizer Coronavirus wohl nie berühmt-berüchtigt
Als tatsächlich wichtig werden derzeit aber nur sieben Linien oder Gruppen angesehen. Drei Varianten gelten als «of concern», also mit Anlass zur Besorgnis: Die britische, die südafrikanische und die brasilianische. Sie besitzen alle die N501Y-Mutation, von der vermutet wird, dass sie die Übertragbarkeit erhöht. Oft werden Virus-Varianten deshalb nicht nach ihrer Abstammung, sondern aufgrund von gemeinsamen (und relevanten) Mutationen gruppiert.
In dieser Form der Klassifikation hätten Nationsbezeichnungen sowieso keinen Platz mehr. Sie sind aber auch sonst umstritten und bei der WHO verpönt, weil sie zu Diskriminierung verleiten können. Könnte man sich dann nicht die ganze Übung sparen und sich neue, lustigere Hobbys suchen? Schliesslich sind nur wenige Varianten des Coronavirus wirklich relevant.
Nein, auch wenn die Faszination für Virenabstammungslinien derjenigen für Endlos-Seifenopern gleicht. Oder gerade deswegen: So können die Wissenschafter nicht nur Abstammung, sondern auch Wege und Reisen von Haupt- und Nebendarstellern verfolgen. Das ermöglicht Rückschlüsse über die Ausbreitung des Coronavirus.
Warum kommt eine schweizerisch-kongolesische Linie des Coronavirus später vor allem in Kanada vor? Hat man andernorts zu wenig genau hingeschaut oder «wandern» wirklich diverse Mutanten von der Schweiz nach Island? Welche Faktoren beeinflussen die sehr unterschiedlichen Anteile einzelner Linien in verschiedenen Ländern?
Ach, diese Gschtudierten
Ernsthafte Fragen – was aber nicht heissen soll, dass die genetische Analyse von Viren kein lustiges Hobby sein kann. Dass die Doktoren und Professoren auch Spass an der Sache haben, verheimlichen sie nicht. So ist «Pangolin» die Abkürzung für «Phylogenetic Assignment of Named Global Outbreak Lineages», aber auch Englisch für Schuppentier.
Das Nebenprojekt der gleichen Forschergruppe heisst «Local Lineage And Monophyly Assessment», abgekürzt Llama. Kann das Zufall sein? Dazu ist wohl weitere Forschung erforderlich.