Zunächst wollte die Regierung Boris Johnson schnellstmöglich die «Herdenimmunität», nun setzt sie auf eine Ausgangssperre. Warum die Kehrtwende? Eine Analyse.
Coronavirus boris johnson
Boris Johnson, Premierminister von Grossbritannien, wendet sich aus der Downing Street 10 mit einer Fernsehansprache zum Verlauf der Corona-Pandemie an die Briten. - Andrew Parsons/No 10 Downing Street/Handout via Xinhua/dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Gestern Montag verhängte Premier Boris Johnson eine dreiwöchige Ausgangssperre.
  • Zuvor hatte die britische Regierung mit konkreten Massnahmen gezögert.
  • Offen ist, was mit den Brexit-Verhandlungen in Coronavirus-Zeiten geschieht.
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Wie in vielen anderen Bereichen auch hatten die Briten bei der Corona-Pandemie einen eigenen Weg einzuschlagen. Stichwort: «Herdenimmunität». Premier Boris Johnson wollte mit einer Art «gelenkter Durchseuchung» erreichen, dass sich rund 60 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert und danach quasi als Herde immun gilt.

Nun aber die totale Kehrtwende: Johnsons Regierung hat gestern Montagabend eine dreiwöchige Ausgangssperre verhängt. Der Premierminister wies die Briten dazu an, das Haus nur noch wenn nötig zu verlassen.

Alle Läden, die nicht der Grundversorgung dienen, wurden mit sofortiger Wirkung geschlossen. Versammlungen von mehr als zwei Personen sind nicht mehr erlaubt - es drohen Strafen. Demnach geht Boris Johnson nach langem Herauszögern gar weiter als etwa die Schweiz.

Kritiker forderten schärfere Massnahmen von Boris Johnson

Kritiker hatten von der Regierung seit langem schärfere Massnahmen gefordert. Sie fürchteten, Grossbritannien könnte noch härter getroffen werden als Italien, sollte der chronisch unterfinanzierte Nationale Gesundheitsdienst NHS unter der Last der Epidemie zusammenbrechen.

Die britische Regierung wollte zunächst keine solch rigiden Massnahmen wie in Kontinentaleuropa. Einerseits wollte man mit der «Herdenimmunität» verhindern, dass das Virus im Herbst mit voller Wucht zurückkehrt. Andererseits dürften auch wirtschaftspolitische Interessen eine Rolle gespielt haben.

Coronavirus crisis in Britain
Menschen distanzieren sich im St Jame's Park in London selbst. Seit Montagabend sind Gruppen von mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit verboten. - Keystone

Ein kompletter Lockdown wird auch die bereits durch den Brexit gebeutelte Nation hart treffen. Grossbritannien ist am 31. Januar aus der Europäischen Union ausgetreten und will bis Ende 2020 die zukünftigen Beziehungen mit der EU neu regeln.

Johnson hatte mehrmals betont, dass er am Datum Ende Jahr festhalten will. Darum droht nach wie vor ein harter Schnitt mit der EU.

Brexit-Verhandlungen in Corona-Zeiten

Eine möglichst schnelle Überwindung der Krise wäre für die Johnson-Regierung in zweierlei Hinsicht wünschenswert gewesen. Zum einen entspricht es so gar nicht dem liberalen Gedankengut der Briten, dass ihre zivile Rechte eingeschränkt werden.

Zum anderen will Boris Johnson nicht bei der EU zu Kreuze kriechen müssen, um eine Verlängerung der Verhandlungen zu beantragen. Doch will er sich mit der EU auf verbindliche Regeln in den künftigen Beziehungen einigen, ist in Coronavirus-Zeiten eine Verlängerung der Verhandlungen wohl unausweichlich.

Brexit-Unterhändler Barnier Frost
Der Chefunterhändler der Europäischen Union für den Brexit, Michel Barnier (r), und der britische Verhandlungsführer für den Brexit, David Frost, posieren vor Beginn der ersten Handelsgespräche nach dem Brexit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich für ein Foto. - Dati Bendo/European Commission/dpa

Zumal der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, an Covid19 erkrankt ist und der britische Brexit-Verhandlungsführer David Frost sich in Selbstisolation befindet.

Mit einer schnellen «Durchseuchung» hätte es weder staatliche Einschränkungen noch eine Verlängerung der Brexit-Verhandlungen gegeben. So zumindest das Wunschdenken von Johnson.

Doch von diesem Ansatz distanzierte sich die Regierung inzwischen. Aufgeschreckt wurde sie von einer Studie des Imperial College in London. Die Forscher hatten ausgerechnet, dass die ursprüngliche Strategie der Regierung bis August 250'000 Menschen das Leben kosten könnte. Ein Risiko, das auch für Johnson zu gross schien.

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