Coronavirus: Kommen die Event-Lockerungen zum falschen Zeitpunkt?
Kann die Schweiz trotz des Coronavirus Grossveranstaltungen verantworten? Marcel Tanner, Mitglied der Covid-Taskforce, gibt seine Einschätzungen.
Das Wichtigste in Kürze
- Ab 1. Oktober sind Grossanlässe über 1000 Personen unter strengen Auflagen wieder erlaubt.
- Marcel Tanner, Mitglied der Covid-Taskforce, ordnet die Event-Lockerungen ein.
- Die Aufhebung des Verbots komme aus epidemiologischer Sicht zum falschen Zeitpunkt.
Der Bundesrat hat entschieden: Er verlängert das Verbot von Grossveranstaltungen um einen Monat. Anlässe mit mehr als 1000 Personen sollen ab dem 1. Oktober wieder erlaubt sein.
Die Lockerungen wurden ausgerechnet am Tag der höchsten Anzahl Neuinfizierten seit Ende April bekanntgegeben. Kann die Schweiz eine Aufhebung des Events-Verbots bei steigenden Zahlen überhaupt riskieren?
Dieser Frage stellt sich Marcel Tanner, Mitglied der Covid-Taskforce. Im Interview mit Nau.ch spricht der Basler Epidemiologe über den Zeitpunkt der Lockerungen, sowie den notwendigen Massnahmen an Grossanlässen.
Nau.ch: Herr Tanner, gestern wurden so viele Neuansteckungen wie lange nicht mehr gemeldet. Ist das der richtige Zeitpunkt für weitere Lockerungen?
Marcel Tanner: Nein, aus epidemiologischer Sicht ist es nicht der richtige Zeitpunkt. So wie sich die Fälle derzeit entwickeln, bleibt ein sehr kleiner Spielraum offen. Allerdings will die Regierung der Bevölkerung mit der Aufhebung des Grossveranstaltungs-Verbots einen Ausblick geben, was auch notwendig ist.
Gesellschaftlich und politisch sind die Lockerungen also nachvollziehbar – rein Public Health wissenschaftlich sind sie aber suboptimal.
Nau.ch: Konkret geht es um die Lockerung der 1000er-Regel. Kommt die Aufhebung des Verbots am 1. Oktober zu früh?
Marcel Tanner: Der Zeitpunkt spielt in erster Linie nicht wirklich eine Rolle. Klar ist, dass aus sozialpolitischer Sichtweise etwas gemacht werden musste. Nun liegt es an der Verantwortung jedes Einzelnen und aller Involvierten, die Schutzkonzepte für kommende Grossanlässe zu entwickeln - und wenn vom Kanton bewilligt - konsequent umzusetzen. Ob die Lockerungen nun im Oktober oder erst im November in Kraft treten, ist also sekundär.
Nau.ch: Welche Massnahmen müssen bei Grossanlässen umgesetzt werden, damit es im Zusammenhang mit Neuansteckungen nicht (zu) riskant wird?
Marcel Tanner: Primär gelten immer und natürlich auch an jeder Grossveranstaltung die Grundmassnahmen von üblichen Hygiene- und Distanzvorschriften, sowie ein funktionierendes Testen mit Isolation und Quarantäne. Wo die Mindestabstände nicht eingehalten werden können, sollen Schutzmasken getragen werden.
Das gilt aber auch vor und nach den Anlässen. Unter Umständen können die An- und Abreise in öffentlichen Verkehrsmitteln oder die Eingangs- und Ausgangszonen nämlicher gefährlicher sein, als der eigentliche Aufenthalt im Stadion oder Konzertsaal. Eine durchdachte Prozessplanung ist also bei jedem Event unerlässlich. Wichtig ist, dass die Grundbedingungen stets eingehalten werden, egal wo man sich gerade befindet.
Nau.ch: Wäre es sinnvoll, Grossveranstaltungen nur für gewisse Altersgruppen zu erlauben?
Marcel Tanner: Nein, das macht aus meiner Sicht wenig Sinn. Es muss eine gemeinsame Lösung entwickelt werden, ohne dass einzelne Altersgruppen davon ausgeschlossen werden. Nur so wird die Bevölkerung Vertrauen in sie setzten.
Auch ein gesunder Menschenverstand ist Voraussetzung für die Bekämpfung dieses Virus. So sollte ein Mensch mit Vorerkrankungen im Moment auf einen Besuch an einem Grossanlass verzichten. Dabei geht es mehr um eine Gemeinschaftsverantwortung als nur um die Eigenverantwortung.
Nau.ch: Gibt es eine Anzahl Neuansteckungen, bei welcher Grossanlässe nicht mehr zu verantworten wären?
Marcel Tanner: Ab ungefähr 300 Neuensteckungen pro Tag wird das rasche Contact-Tracing schwierig. Dabei muss aber zwingend auch auf die Verteilung der Fälle geachtet werden. Wenn alle 300 Neuinfizierungen aus derselben Region stammen, befinden wir uns in einer komplett anderen Situation, als wenn sich die Fälle gleichmässiger im ganzen Land verteilen. Somit ist eine Differenzierung in jedem einzelnen Fall unentbehrlich.