Immer mehr Menschen müssen Lebensmittel mit Kreditkarte kaufen
Alles wird teurer. Armutsgefährdete bekommen das besonders zu spüren – und verschulden sich. In der Not greifen viele beim Lebensmitteleinkauf zur Kreditkarte.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Teuerung setzt gerade Armen zu. Hilfsorganisationen werden überrannt.
- Die steigenden Kosten treiben Menschen in die Schulden.
- Armutsgefährdete kaufen Lebensmittel daher mit Kreditkarte.
- Eine Forscherin warnt: Armut verursacht Stress und beeinträchtigt die Gesundheit.
Steigende Mieten, höhere Nebenkosten und explodierende Krankenkassenprämien. Hinzu kommt die allgemeine Teuerung – gerade bei Lebensmitteln. Am Ende des Monats liegt immer weniger Geld auf dem Konto, die Lohnerhöhungen können diesen Trend nicht ausgleichen.
Die Folge: Organisationen für Armutsbekämpfung werden regelrecht überrannt.
«Tendenziell kommen immer mehr Menschen zu unseren regionalen Caritas-Organisationen in die Sozial- und Schuldenberatung», sagt Caritas-Sprecherin Daria Jenni zu Nau.ch. «Die Situation diesbezüglich ist regional unterschiedlich.»
Bei der Caritas St. Gallen-Appenzell liegt der Anstieg der Fälle in den letzten anderthalb Jahren bei rund 20 Prozent!
«Man kann von einer multiplen Krise sprechen», sagt Jenni. Und warnt: «Den betroffenen Haushalten steht das Wasser bis zum Hals. Und sie verfügen über keinen finanziellen Handlungsspielraum, um steigende Kosten bei Mieten, Krankenkasse und Lebensmitteln aufzufangen.»
Ähnliches berichtet die Winterhilfe. «Je nach Kanton verzeichnen wir bis zu 20 Prozent mehr Gesuche im Vergleich zum Vorjahr.» Das bestätigt Anna Suppa, Fachspezialistin für Armut bei der Winterhilfe.
Hier melden sich teils auch Leute, die bis anhin über die Runden gekommen sind. «Wegen den steigenden Lebenshaltungskosten wird das Geld nun plötzlich knapp.»
Armutsgefährdete haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe
Besonders spürbar ist dieser Teuerschock aber bei der armutsgefährdeten Bevölkerung. 2022 lag die monatliche Einkommensgrenze bei einer Einzelperson bei 2587 Franken.
Das ist in der Regel noch zu viel Einkommen, um sozialhilfeberechtigt zu sein. Allerdings zu wenig, um insbesondere unerwartete Kosten wie eine hohe Zahnarztrechnung decken zu können.
2022 lag die Armutsgefährdungsquote laut Bundesamt für Statistik (BFS) bei 15,6 Prozent der Wohnbevölkerung – also jede sechste Person. Aktuellere Zahlen seit den Preisexplosionen liegen nicht vor.
Nicht zu verwechseln ist diese Gruppe mit Armutsbetroffenen. Die Armutsquote – 2022 lag sie bei 8,2 Prozent – orientiert sich am Existenzminimum der Sozialhilfe. 2022 lag dieses bei einer Einzelperson bei 2284 Franken pro Monat.
Bedeutet also: Wer bis zu 300 Franken monatlich mehr verdient, gilt als armutsgefährdet, hat aber keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. In der Not können sich viele nur mit Schulden über Wasser halten.
«Entweder Rechnungen bezahlen oder Lebensmittel»
Lorenz Bertsch, Bereichsleiter der Sozial- und Schuldenberatung der Caritas St. Gallen-Appenzell, sagt zu Nau.ch: «Man muss sich entscheiden: Entweder begleicht man ausstehende Rechnungen, um Mahnungen und Betreibungen zu verhindern. Oder man kauft mit dem Geld Lebensmittel – für beides reicht es nicht.»
Die vermeintliche Lösung: «In der Not greifen viele zur Kreditkarte, um die Lebensmittel zu kaufen», so Bertsch. Dass das Geld nicht ausreicht, wird so herausgezögert.
Diese Beobachtung macht auch die Winterhilfe. «Manche jonglieren auch mit mehreren Kreditkarten», sagt Armutsspezialistin Anna Suppa.
Die Kreditkarten-Methode sei ein grosses Problem. «Rückzahlungen im Verzug und hohe Zinsen können eine Schuldenspirale auslösen oder diese verstärken», so Suppa. Viele halten sich auch mit Kleinkrediten oder Darlehen aus dem privaten Umfeld über Wasser.
Schuldenspirale durchbrechen ist schwierig
Wer einmal in eine Schuldenspirale gerät, kommt nur schwer raus. «Für eine Schuldensanierung muss man über ein genügend hohes Einkommen verfügen. Für viele bleibt aufgrund des knappen Budgets ein Leben mit Schulden als Alternative.»
Heisst: Die Betroffenen können ihre Schulden nicht abbezahlen, finden aber einen Umgang damit und beugen einer weiteren Überschuldung vor.
Organisationen wie die Caritas und Winterhilfe können zudem vereinzelt finanzielle Unterstützung bieten, um die Schuldenspirale zumindest teilweise brechen zu können.
Anna Suppa warnt: «Schulden verursachen Stress und schlagen auf die Psyche.» Auch die physische und soziale Gesundheit werden durch Schulden und Armut beeinträchtigt. «Etwa weil die Betroffenen beim Essen und ihrer Gesundheit sparen oder weil sie von sozialen Aktivitäten ausgeschlossen werden.»
Aufruf
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