Mathematik

Mathematik bringt Schüler und Lehrer zum Heulen

Bettina Zanni
Bettina Zanni

Zürich,

Das Fach Mathematik sorgt an Schweizer Schulen zunehmend für Frust. Auch Lehrpersonen sind deshalb am Anschlag. Nachhilfestudios boomen.

Mathematik
Das Fach Mathematik bringt Schülerinnen und Schüler regelmässig an die Grenzen. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Ein Schulberater schlägt Alarm wegen des «immensen» Mathe-Stoffdrucks in der Primarschule.
  • «Der Stoff ist in der Taktung kaum mehr kindgerecht», sagt ein Nachhilfeprofi.
  • Schon beim Umgang mit Zirkel und Taschenrechner scheitert es laut einem Lernstudio-Leiter.

Schon immer hatte die Mathe ihre Tücken. Mittlerweile bringt das Fach jedoch Schüler und Lehrpersonen zum Heulen. Der Zürcher Schulberater Sammy Frey schlägt in einem Post auf Linkedin Alarm.

«Am schlimmsten ist es in der Mathe, da hab ich vollkommen den Anschluss verloren.» Mit diesen Worten zitiert Frey einen Fünftklässler. «Ich könnte gleich mitheulen», habe dessen Lehrerin geantwortet.

Den Stoffdruck in der dritten bis sechsten Primarklasse bezeichnet Frey als «immens». «In der Mathematik wechselt alle 1–2 Wochen das Thema.»

Eine Woche werde schriftliche Division, eine Runden und eine weitere Brücheordnen durchgenommen. «Dann eine Lernkontrolle über alle Themen und weiter gehts ...»

Rückstand wegen Mathematik

Kinder, die nicht mitkommen, brauchen laut dem Schulberater Unterstützung durch die Eltern oder eine Lehrperson für Integrative Förderung. Wer das nicht habe, sei spätestens ab Oktober zurückgefallen.

«So weit, dass es kaum mehr möglich ist, dem regulären Mathe-Unterricht ohne Hilfe zu folgen.» Und dies, obwohl keine Rechenschwäche vorliege.

«Ich hasse Schule. Nicht Sie, Frau X, aber die Schule. Und Mathematik!» Dies sagte der weinende Bub laut Frey weiter.

Schulberater Sammy Frey
Der Zürcher Schulberater Sammy Frey widmete Mathe einen längeren Linkedin-Post, - Screenshot Linkedin/Sammy Frey

Solche Aussagen hört der Schulberater aktuell oft, auch von Lehrpersonen. Sie litten unter dem System, das auch von ihnen viel abverlange, schreibt er. Auf Anfrage wollte sich Frey nicht weiter zum Thema äussern. Er kündigte an, dieses demnächst in einem Podcast zu behandeln.

«Eltern melden sich verzweifelt»

Ein Drittel der Schweizer Kinder ist laut einer aktuellen Studie von Pro Juventute wegen des Leistungsdrucks gestresst. Nachhilfestudios spüren, dass gerade die Mathematik Schüler und Lehrpersonen zunehmend an den Anschlag bringt.

Die Lerne Gerne GmbH hat Standorte in Zürich und Winterthur. «Wir verzeichnen seit drei Jahren einen konstanten Zuwachs der Anfragen um rund 20 Prozent pro Jahr.» Dies sagt Yvonne Ledermann, pädagogische Leiterin, zu Nau.ch.

Vor allem bei Familien mit Kindern in der vierten bis achten Klasse ist die Nachfrage laut Ledermann gross.

Gingst du gerne zur Schule?

«Viele Eltern melden sich verzweifelt bei uns.» Sie wüssten nicht mehr weiter, weil ihr Kind den Anschluss verliere, sagt Ledermann. Gleichzeitig bleibe im regulären Schulbetrieb keine Zeit, um Rückschritte oder Verständnisprobleme gezielt aufzuarbeiten.

Tempo als Problem

Auch in Bern kämpfen Schülerinnen und Schüler mit der Mathematik. «Die Nachfrage hat bei den Dritt- bis Sechstklässlern um rund 30 Prozent zugenommen», sagt Carlo Schütz. Er ist Inhaber und Leiter der Lernstudio Heureka GmbH. Diese hat Standorte in Bern, Biel und Thun.

Yvonne Ledermann stellt fest, dass der Mathematikstoff ab der dritten Klasse nicht nur inhaltlich anspruchsvoller geworden ist. «Sondern vor allem in seiner Taktung kaum mehr kindgerecht», sagt sie.

Ein nahezu wöchentlicher Themenwechsel sei inzwischen die Realität. «Das überfordert viele Kinder und erschwert nachhaltiges Lernen.»

Als ausgebildete Primarlehrerin mit langjähriger Unterrichtserfahrung weiss Ledermann auch, wie es im Unterricht zu- und hergeht. Es bleibe im Regelunterricht kaum Raum, um individuelle Lücken aufzuarbeiten, sagt sie. «Kaum ist ein Thema eingeführt, steht schon das nächste an.»

Es brauche Mut zur Lücke

Lehrpersonen mit noch wenig Erfahrung geraten laut der pädagogischen Leiterin deshalb ebenfalls unter Druck.

Die Fülle an Material aus den aktuellen Mathematiklehrmitteln verlange eine gute Auswahlkompetenz, sagt Ledermann. «Und den Mut, auch mal Themen bewusst zu streichen – was nicht allen möglich ist.» Wer sich strikt an den Fahrplan des Lehrmittels halte, wechsle wöchentlich das Thema.

Bist du gut in Mathe?

Die Nachhilfeprofis sehen das Übel im Lehrplan 21. Dieser schreibe eine breite Abdeckung mathematischer Inhalte vor, sagt Carlo Schütz.

«Dadurch müssen Lehrpersonen oft innerhalb von ein bis zwei Wochen neue Themen einführen und behandeln.» Die begrenzte Anzahl an Mathematiklektionen pro Woche erschwere es zusätzlich, alle Inhalte vertieft zu vermitteln.

«Kaum noch klassische Hausaufgaben»

«Hinzu kommt der bestehende Lehrpersonenmangel im Kanton Bern», sagt Schütz. Klassen würden deshalb häufiger von nicht ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet.

Oder Lehrpersonen hätten durch Mehrbelastung weniger Zeit für individuelle Förderung. Ausserdem erschwerten die unterschiedlichen Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler es, allen gerecht zu werden.

Sandro Kessler von der Mathschule Bern kritisiert, dass der Lehrplan stark auf selbstorganisiertes Lernen setzt. «In vielen Klassen gibt es zudem kaum noch klassische Hausaufgaben.»

In der Mathematik führt dies laut Kessler teils dazu, dass wichtige Übungs- und Vertiefungsphasen im Unterricht zeitlich eingeschränkt sind. Viele Schülerinnen und Schüler seien in ihrer individuellen Entwicklung jedoch noch nicht parat dafür.

Steigende Nachfrage bei Mittelschülern

Die Defizite schleppen die Schülerinnen und Schüler weiter. In der Mathschule Bern buchen zunehmend Mittelschüler und Lernende Nachhilfestunden. In seiner Arbeit als Nachhilfelehrer fällt Sandro Kessler auf, dass diese an ungenügend gefestigten Grundlagen scheitern.

«Dazu kommen fehlende Strategien zur Problemlösung und mangelnde Unterstützung im schulischen wie auch häuslichen Umfeld.»

Kessler führt dies darauf zurück, dass viele Kinder nicht mehr lernen, eine Aufgabe strukturiert anzugehen. Dazu gerieten grundlegende Kompetenzen wie das Anfertigen von Notizen und Zwischenschritten oft ins Hintertreffen.

«Auch wird der sichere Umgang etwa mit Zirkel, Geodreieck oder Taschenrechner in vielen Klassen nicht mehr durchgängig geübt.»

Lücken beim Einmaleins

In der Lerne Gerne GmbH fällt dieses Phänomen auch auf. Die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler kämpften mit Lücken in den mathematischen Grundlagen, sagt Yvonne Ledermann. «Insbesondere beim Einmaleins sowie beim sicheren Minusrechnen.»

Die pädagogische Leiterin warnt. Lücken in der Mathematik könnten eine psychologische Abwärtsspirale auslösen, sagt sie.

Mathematik komme im Stundenplan fast täglich vor. Kinder mit Mathe-Schwierigkeiten seien deshalb praktisch jeden Tag mit ihren Schwächen konfrontiert.

«Das kann zu Frustration, Schamgefühlen und im schlimmsten Fall sogar zu Angst vor dem Fach führen.»

Das sagt die oberste Lehrerin

Dagmar Rösler ist Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Sie bestätigt gegenüber Nau.ch die Rückmeldungen aus den Nachhilfestudios. «Die Anforderungen und die Vielzahl der Themen sind auch auf Primarschulstufe tatsächlich hoch – nicht nur in Mathematik.»

Sie führt den Druck etwa auf den Zeitplan zurück. Die Lehrpersonen müssten bis zum Ende eines Zyklus oder einer Stufe bestimmte Themen behandelt haben. «Worauf die nächste Stufe dann wieder aufbauen kann.»

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«Die Anforderungen und die Vielzahl der Themen sind auch auf Primarschulstufe tatsächlich hoch – nicht nur in Mathematik», sagt Lehrerverbandspräsidentin Dagmar Rösler. - keystone

Die oberste Lehrerin macht darauf aufmerksam, dass «natürlich auch der Zeitdruck» steige. Sie verbindet dies mit der stetig steigenden Heterogenität und den ebenso ansteigenden Anforderungen an die Schule.

Ob Lehrpersonen damit gleich an den Rand der Verzweiflung gerieten, wisse sie nicht, sagt Rösler. «Aber es ist bestimmt eine grosse Herausforderung, genügend Zeit fürs Entdecken und Üben zu haben.»

Die Schülerinnen und Schüler kommen mit den Anforderungen laut Rösler unterschiedlich klar. «Lehrpersonen sind in der Regel gut ausgebildet und versuchen, dieses Gefälle innerhalb der Klasse so gut wie möglich aufzufangen.»

Kommentare

User #880 (nicht angemeldet)

Mathematik ist ideal für ein unmenschliches Leben das den Verstand überfordert.

Shagrath

Hausaufgaben wären eben doch nützlich, um das in der schule erlernte zu üben und zu festigen.

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