Giuseppe Gracia: Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Ostern
Schriftsteller Giuseppe Gracia sinniert in seinem Gastbeitrag über den Wunsch nach Gerechtigkeit und was Ostern damit zu tun hat.
Das Wichtigste in Kürze
- Giuseppe Gracia ist 55 Jahre alt und Schrifststeller.
- In seinem Gastbeitrag zu Ostern schreibt er über den Wunsch nach mehr Gerechtigkeit.
Die Vorstellung einer gerechten Welt ist so alt wie die Menschheit. Genauso alt ist allerdings die Erfahrung von Unrecht und menschlicher Bösartigkeit. Neben Epidemien, Krieg oder Naturkatastrophen erleben wir weltweit täglich Mord, Totschlag und Massenhunger. Wir schaffen es nicht, das von uns selbst verursachte Leid aus der Welt zu schaffen.
Nach dem zivilisatorischen Schock der Schrecken des Nationalsozialismus, entfesselt im aufgeklärten Deutschland der Industrialisierung, mitten im neuzeitlichen Europa, hat der Philosoph Theodor Adorno (1937–1969) die Problematik des Glaubens an den Fortschritt der Menschheit so formuliert: Was wir Fortschritt nennen, sei im Grunde nur der Fortschritt von der Steinschleuder zur Megabombe.
Dabei stellt sich die Frage, was eigentlich die Gründe für einen solchen Befund sind. Warum bringt die Menschheit zwar grosse Fortschritte im Wissenschaftlichen, Technischen, Medizinischen hervor, zugleich aber auch die abgründigsten Möglichkeiten der Zerstörung?
«Freiheit des Menschen immer neu»
Das hat damit zu tun, dass es einen generell ansteigenden Fortschritt nur im materiellen Bereich geben kann. Die wachsende Erkenntnis der Strukturen der Materie führt zu besserer Forschung, zu einer grösseren Beherrschung von Natur und Technik.
Aber im Bereich des moralischen Bewusstseins? Nein. Wenn es um Entscheidungen des Einzelnen geht, kann es kein vergleichbares Wachstum geben.
Aus dem einfachen Grund, weil die Freiheit des Menschen immer neu ist. Der rechte Gebrauch der Freiheit ist keine wissenschaftliche Formel, man kann das nicht wie eine physikalische Theorie weitergeben.
Jeder Mensch muss seine eigenen Entscheide fällen, und zwar jeden Tag neu. Auch kann jede Generation ihre eigenen kulturellen Standards aufrichten. Dabei mögen die Erkenntnisse und Erfahrungen früherer Generationen helfen, inspirieren, orientieren.
Aber diese Erkenntnisse und Erfahrungen können auch abgelehnt werden. Man kann sie als verstaubte, überflüssige Tradition belächeln.
Das ist unsere Freiheit. Jeder Mensch muss immer neu für das Gute gewonnen werden – mitten in der Gefahr, sich für das Zerstörerische zu entscheiden.
Vergebliche Hoffnung nach Gerechtigkeit
Das ist der Grund, warum auch in Zukunft zwar wissenschaftlich-technische Fortschritte zu erwarten sind, aber keine gerechte Welt, keine moralisch optimierte Menschheit. Das ist kein grosser Trost, wenn es nur diese Welt gibt, nur dieses zeitlich begrenzte Dasein. Dann enden alle Hoffnungen auf Gerechtigkeit im Staub der Geschichte.
Dann lautet die bittere Pille: Nach Hitler, Stalin, Lenin, Mao, Mobutu, Dschingis Kahn oder Caligula, nach all dem Blutvergiessen zwischen Steinschleuder und Megabombe sehnen wir uns zwar nach Gerechtigkeit, nach Heilung und Wiedergutmachung, aber das ist vergeblich. Oder wie es das Alte Testament ausdrückt: «Windhauch und Luftgespinst».
Die Welt bleibt ungerecht, die Menschheit unberechenbar. Und selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn wir es eines Tages doch schaffen würden, die ideale Gesellschaft aufzubauen, eine Welt, in der niemand mehr Unrecht erfährt, selbst dann wäre damit keine Gerechtigkeit geschaffen. Denn davon hätten ja die Millionen Unschuldiger nichts, die bis zur Errichtung dieser idealen Gesellschaft bereits ermordet worden sind. Millionen Kinder, Frauen und Männer, deren Schreie ungehört in der Dunkelheit der Vergangenheit verhallen.
Diese Überlegung führt wieder zu Theodor Adorno. In seinem Buch «Negative Dialektik» (1966) schreibt er, dass wirkliche Gerechtigkeit eine Welt verlangen würde, «in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern das unwiderruflich Vergangene ebenfalls widerrufen wäre».
Das legt nahe, dass es für Menschen keine Gerechtigkeit geben kann, wenn der Tod das letzte Wort hat, wenn es nicht so etwas gibt wie die Auferweckung der Toten. Als Atheist lehnt Adorno die Auferstehung zwar ab, aber im Bewusstsein: Ohne Auferstehung bleibt die Welt im letzten trostlos, hoffnungslos.
Die Bedeutung von Ostern
Aus dieser radikalen Perspektive wird deutlich, was das christliche Fest Ostern bedeutet. Es wird deutlich, was Christen meinen, wenn sie von Auferstehung sprechen, wenn sie der Kreuzigung Jesu gedenken und seine Auferstehung feiern.
Es geht um den Glauben, dass Gott mit den Menschen mitleidet und unsere Gottverlassenheit am Kreuz mitträgt. Ostern ist das Fest, das sagt: Ja, es gibt die Auferstehung. Es gibt das letzte Gericht. So wie es die ewige Liebe Gottes gibt.
Mit dem Glauben an die leibliche Auferstehung, Höhepunkt von Ostern, behauptet das Christentum: Die Sehnsucht nach wahrer Liebe und Gerechtigkeit ist kein Hirngespinst. So, wie der körperliche Durst darauf hindeutet, dass es Wasser gibt, um diesen Durst zu löschen, so deutet der seelische Durst nach wahrer Liebe und Gerechtigkeit darauf hin, dass diese existieren.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat es einmal so formuliert: «Ich bin überzeugt, dass die Frage der Gerechtigkeit das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist.»
Zum Autor: Giuseppe Gracia (55) ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Gerade ist sein neues Buch «Die Utopia Methode» erschienen (Fontis Verlag, 2022).