Sonja Dinner: «Viele Schweizer schämen sich für ihre Armut»
Mit ihrer Stiftung «DEAR Foundation - Solidarité Suisse» hilft die Baslerin Sonja Dinner (58) jenen Menschen, die durch die Corona-Krise in Not geraten sind.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Corona-Pandemie verändert die Welt.
- Auch in der wohlhabenden Schweiz wächst die Schere zwischen Arm und Reich.
- Stiftungsgründerin Sonja Dinner (58) ruft deshalb zu mehr Solidarität auf.
Die Coronakrise stellt alles auf den Kopf: medizinisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich – auch in der Schweiz: Deshalb müssen wir solidarisch sein – gerade mit den eigenen Landsleuten. Die Pandemie hat eine Realität sichtbar gemacht, die hierzulande oft tabuisiert wird: Menschen, die um ihre Existenz bangen, jeden Franken zweimal umdrehen und für einen Sack Lebensmittel Schlange stehen. Während des Lockdowns sind hier Dinge geschehen, die wir nicht für möglich gehalten hätten.
Aus dem vermeintlich permanenten Aufschwung ist bei vielen Menschen der jähe Absturz geworden, und viele haben es noch gar nicht realisiert. Die Krise trifft vor allem Menschen mit tiefem Einkommen; Menschen, die nicht nur von einem Job leben können und auf mehrere Arbeitgeber angewiesen sind.
Wir sprechen von Leuten, die am Rande des Existenzminimums leben: 1200 Franken pro Monat. Das ist selbst in normalen Zeiten zu wenig. Wir sehen das Gesicht der Armut ganz deutlich bei den Empfängern unserer Unterstützungsbeiträge – beispielsweise in Gassenküchen oder Frauenhäusern.
Tabuisierung ist arrogant
Oft wird das Thema aber tabuisiert. Und das stufe ich als masslose Arroganz von uns ein. Es ist sehr überheblich, wenn man behauptet, dass es in der Schweiz keine Armut gibt – weil es nicht stimmt. Denn sie ist einfach nicht so sichtbar. Und weil die Armut in der Schweiz ein Tabuthema ist, schämen sich die Betroffenen zum Teil, Hilfe anzufordern und anzunehmen. Viele versuchen krampfhaft das Bild der heilen Welt und einer bürgerlichen Existenz gegen aussen aufrechtzuerhalten – selbst wenn es bei weitem nicht mehr stimmt.
Es gibt beispielsweise viele arme Menschen, die noch in einer Wohnung leben. Aber wenn man sich in diesen Wohnungen umschaut, ist alles auf Pump gekauft. Diese Menschen können die Schulden nicht mehr bedienen.
So gesehen, ist unsere Wohlstandsgesellschaft für gewisse Leute eine Falle: einerseits, weil sie denken, sie müssen auch haben, was man bei anderen sieht; andererseits weil man es unbedingt haben will und es leicht finanzierbar ist. Immerhin sind wir in der Schweiz noch nicht so weit wie in den USA oder in Grossbritannien, wo einem die Kredite schon fast aufgedrängt werden. Aber man kann auch bei uns praktisch alles auf Kredit kaufen.
Alleinerziehende und Pflegende werden oft nicht wertgeschätzt
Besonders betroffen sind oft Alleinerziehende. Sie müssen zwischen der Betreuung der Kinder und Mittelbeschaffung einen grossen Spagat machen: finanziell, aber auch organisatorisch und emotional. Und dann kommen dann leider oft die Kinder zu kurz – weil ihre Eltern praktisch keine zeitliche Kapazität und keine Energie mehr haben, sich um sie zu kümmern. Und oft, weil sie keine Infrastruktur besitzen.
Wen man ebenfalls nicht vergessen darf, sind Menschen, die zu Hause jemanden Pflegebedürftigen betreuen müssen. Dies wird von der Gesellschaft auch nicht wertgeschätzt – egal, ob es eine alte Person oder ein behindertes Kind ist.
Mit unserer Stiftung DEAR Foundation – Solidarité Suisse wenden wir uns an Organisationen und Verbände, die für Unterstützungszahlungen an Privatpersonen in Not infrage kommen. Es gibt beispielsweise eine Organisation von alleinerziehenden Vätern und Müttern. Es gibt verschiedene Behindertenverbände. Wir müssen über derartige Organisationen gehen. Denn die Einzelfälle können wir nicht abhandeln – alleine von der Anzahl her nicht.
So haben wir verschiedene Modelle für gewisse Berufsgruppen aufgebaut, die ganz besonders betroffen sind. Ich spreche beispielsweise von Marktfahrern und von Über-50-Jährigen. Das sind Berufsgruppen, die teilweise von uns bereits Unterstützung erhalten haben und dadurch wieder Einkommen generieren können.
«In Bildung investieren»
Wir haben aber ganz klare Auflagen, wann und bei wem wir Unterstützung leisten. Es kann nicht sein, dass jemand mit zwei Millionen Franken Vermögen den Job verliert und dann von uns Geld verlangt. Wir fragen nach den Vermögensverhältnissen – und ob eine Firma die staatlichen Unterstützungsgelder bezogen hat.
Wenn wir einem KMU helfen, ist dies an die Bedingung geknüpft, dass während der Unterstützungsperiode keine Boni und Tantiemen ausbezahlt und die Löhne der Geschäftsleitung reduziert werden. Die Geschäftsleitung muss immer Vorbild sein bezüglich Solidarität. Das unterscheidet verantwortungsvoll handelnde Patrons von Managern, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.
Wenn ich gefragt werde, was ich Stellensuchenden oder Arbeitslosen rate, sage ich immer das gleiche: Ich rate jedem Menschen – egal ob jung oder älter - in Ausbildung zu investieren. Bildung ist das einzige, das man niemandem wegnehmen kann. Bildung ist das eigentliche Fundament für eine langfristig erfolgreiche Existenz.
Das gilt in der armen Welt, aber auch in der Schweiz. Bildung ist das wertbeständigste Kapital, das man haben kann. Und es gibt durchaus Branchen, die zukunftsträchtig sind – beispielsweise die Informatik und das Gesundheitswesen.
Grosses Potenzial im Gesundheitswesen
Gerade im Gesundheitswesen sehen wir erhebliches Potenzial für arbeitslose Menschen, sich beruflich neu zu orientieren und in einer zukunftsorientierten Branche Fuss zu fassen. Sind diese flexibel, serviceorientiert sowie empathisch und bringen sie Erfahrung im Umgang mit Menschen mit, sind wichtige Voraussetzungen erfüllt.
Mit unserer Stiftung sind wir an einem Konzept, zusammen mit Partnern Umschulungen in Pflegeberufe zu unterstützen. Unser Ziel ist, einer möglichst hohen Zahl von umschulungswilligen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich eine neue berufliche Existenz mit positiven Aussichten aufzubauen.
Ich hoffe, dass die aktuelle Lage auch zu einer Wertekorrektur führt. Sonst fahren wir die Welt an die Wand. Wir müssen weniger konsumieren und weniger produzieren. Das gilt für alle Produkte. Wenn man für zehn Euro Jeans kaufen kann, weiss man, dass da Kinderarbeit und Gift drin ist.
Noch problematischer wird es, wenn man Jeans für 300 Euro kauft und trotzdem nicht sicher sein kann, dass diese unter fairen Bedingungen produziert wurden. Früher konnte man sagen, dass man kriegt, was man bezahlt. Das ist heute leider nicht mehr so. Deshalb rufe ich die Menschen auf, wenn immer möglich nachhaltige Labels zu berücksichtigen.
Hilfe für alle
Mit unserer Stiftung wollen wir aber nicht nur den Corona-Opfern helfen. Der Stiftungszweck ist die Unterstützung von Opfern von Pandemien und Naturkatastrophen. Wenn wieder einmal eine Katastrophe wie in Gondo passieren sollte und der Staat nicht helfen kann oder will, könnten wir einspringen. Und je mehr Mittel wir haben, desto effizienter, umfangreicher und länger könnten wir helfen.
Deshalb bitte ich auch an dieser Stelle alle Menschen, die in der Schweiz leben, grosszügig zu spenden. Helfen Sie den sozialen Frieden zu wahren – für unsere Kinder. Helfen Sie, Arm und Reich näher zusammen zu bringen.
Über die Autorin: Die Baslerin Sonja Dinner führte bis 2001 ihre eigene Firma im IT-Bereich mit 30 Mitarbeitenden. Dann entschloss sie sich zum Frontenwechsel, gründete eine Stiftung (The DEAR Foundation), die sich vor allem für Kinder und Frauen in unterprivilegierten Regionen einsetzt.
2020 lancierte sie die Stiftung «DEAR Foundation - Solidarité Suisse» (www.solidaritesuisse.ch). Spenden sind sehr willkommen und werden mit einer Steuerbestätigung verdankt.