Natalia Wörner: «Häusliche Gewalt an Frauen geht uns alle an»
Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. «Diese Zahlen sind inakzeptabel», betont Natalia Wörner im Interview. «Das Thema geht uns alle an!»
Natalia Wörner (55) setzt ihren Kampf gegen häusliche Gewalt an Frauen bewusst fort. Bereits 2020 gründete die Schauspielerin mit der Initiative #Sicherheim eine Kampagne gegen häusliche Gewalt an Frauen, aktuell unterstützt sie das globale Programm von Yves Saint Laurent Beauty «Liebe ohne Gewalt». «Für mich ist es wie eine Weiterführung eines inneren roten Fadens», erklärt der TV-Star kurz vor dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, der jährlich am 25. November begangen wird.
Und auch in Spielfilmform beleuchtet die Schauspielerin dieses wichtige Thema. Arte zeigt am 18. November um 20:15 Uhr den Film «Die Macht der Frauen». Wörner verkörpert darin die auf Sexualstrafrecht spezialisierte Anwältin Annabelle Martinelli. «Ich glaube, wir müssen auch im Fiktionalen sehr viel mehr die Opferperspektive erzählen und damit auch Ohnmacht.» Doch auch die Politik nimmt die 55-Jährige im Interview in die Pflicht. «Es fehlt eine politische Gesamt-Strategie und ein Herangehen, das alle Ressorts einbindet», stellt Wörner klar.
Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt in ihrer aktuellen oder früheren Beziehung. Dennoch ist Gewalt gegen Frauen weitgehend immer noch ein Tabuthema, warum?
Natalia Wörner: Ich glaube, dass die stigmatisierte Tabu-Zone langsam durchschritten ist und das Thema Gewalt gegen Frauen mittlerweile einen sehr viel grösseren Resonanzraum in der Gesellschaft findet und in weiten Teilen auch ein differenzierterer Umgang in den Medien im Gange ist. Da ist noch sehr viel Luft nach oben und was sicherlich hilft ist, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen und genau zu analysieren, wo es mangelt und was es politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich braucht und welche Rolle die Medien hier spielen und in welcher Verantwortung sie stehen.
Die Zahlen in Deutschland sind weiterhin inakzeptabel. Nicht nur wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt, es wird auch jede vierte Frau mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner. Nach repräsentativen Befragungen erleben zwei von drei Frauen in ihrem Leben sexuelle Belästigung. Alle 2,5 Tage tötet ein Mann in Deutschland seine (Ex-)Partnerin. Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa EINE Betroffene die Verurteilung des Täters. Das ist nicht akzeptabel und in keiner Form zu rechtfertigen. Offizielle Zahlen, wie oft digitale Gewalt vorkommt, gibt es noch gar nicht. Dabei sind insbesondere Frauen davon betroffen, und häufig führt das dazu, dass Frauen nicht mehr ihre Meinung äussern, um sich vor Angriffen online zu schützen.
Hier spiegelt die Kampagne von YSL Beauty «Liebe ohne Gewalt» unsere Lebensrealität wider und zwar in der Form, dass alle Lebensbereiche, in denen Gewalt stattfindet, beleuchtet werden und ein Bewusstsein dafür entstehen kann. Unsere Wahrnehmung muss sich unserer Lebensrealität anpassen und eine Sprache dafür finden – die Grauzonen bekommen Namen und Koordinaten und vielleicht auch Schmerzgrenzen.
Was braucht es, damit endlich eine vollständige Enttabuisierung gelingt?
Wörner: Die Frage ist doch: Wie wollen wir leben? Und was wollen wir unseren Töchtern und Söhnen für die Zukunft mitgeben. Die Wahrung von Frauenrechten ist ein Gradmesser für den Zustand unserer Gesellschaft. Gewalt gegen Frauen ist auch eine Frage der inneren Sicherheit und die Beendigung von Gewalt gegen Frauen ist eine Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Wir erleben jetzt seit Wochen die Revolution im Iran und sehen, wie täglich junge Frauen und Männer ihr Leben riskieren, um endlich frei leben zu können. Der Mut dieser Menschen raubt mir die Sprache. Frei zu sein heisst, angstfrei zu sein.
Was braucht es denn politisch, um den Weg, den Sie sich wünschen, weiter vorwärts zu bringen?
Wörner: Der kürzlich erschienene Bericht des Europarats zeigt, dass es in Deutschland noch an vielen Stellen hapert bzgl. Massnahmen zur Prävention, Strafverfolgung, Schutz und Unterstützung von Betroffenen. Es fehlt zum Beispiel bisher eine politische Gesamt-Strategie und ein Herangehen, das alle Ressorts einbindet, die mit dem Thema inhaltlich verbunden sind, also Inneres, Soziales, Gesundheit-, Familien- und Finanzministerium, das ist eine Verpflichtung der Istanbul-Konvention, die noch nicht umgesetzt wurde, und es gibt noch keinen Zeitplan der Regierung.
Ganz entscheidend und unmittelbar für alle Betroffenen ist die Tatsache, dass die Unterstützungsangebote nach wie vor nicht bedarfs- und flächendeckend vorhanden sind. Es kommt darauf an, in welcher Region man lebt, ob man Zugang zu Frauenberatungsstellen oder einem Frauenhausplatz hat. Insbesondere Betroffene von sexualisierter Gewalt, und Unterstützung für Frauen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Auch in Sammelunterkünften für Asylsuchende ist die Sicherheit und der Schutz vor Gewalt für Frauen nicht gewährleistet.
Ausserdem braucht es mehr Forschung, um das Thema besser zu verstehen und wirksame Massnahmen zu entwickeln. Die letzte grosse Prävalenzstudie der Regierung war 2004. Jetzt endlich wurde die Arbeit an einer neuen Studie begonnen, fast 20 Jahre später. Das macht einen schon sehr nachdenklich in Anbetracht der täglichen Nachrichtenlage.
2020 gründeten Sie mit #Sicherheim selbst eine Kampagne gegen häusliche Gewalt an Frauen. Aktuell engagieren Sie sich gemeinsam mit Yves Saint Laurent Beauty für die Initiative «Liebe ohne Gewalt». Was genau steckt dahinter?
Wörner: Für mich ist es wie eine Weiterführung eines inneren roten Fadens. Jetzt nach zwei Jahren #Sicherheim die Kampagne «Liebe ohne Gewalt» zu unterstützen und ich bin dafür sehr dankbar. Bei den 9 Warnzeichen für Gewalt in Partnerschaften wird ja auf eine sehr klare Weise auf die subtile und schleichende Kraft von toxischer Liebe hingewiesen. Es geht ja um diese 9 Stichpunkte, die sicher sehr individuelle Ausdrucksformen haben, die Kampagne möchte ja das Prinzip dahinter aufdecken und eine Sensibilität für Grenzüberschreitungen schaffen.
Ignoranz: Immer dann, wenn Wut aufkommt.
Erpressung: Wenn du dich weigerst, etwas zu tun.
Demütigung: Mit dem Ziel, dich zu unterdrücken.
Manipulation: Du sollst tun und sagen, was von dir verlangt wird.
Eifersucht: Bei allem, was du tust.
Kontrolle: Darüber, wohin du gehst und wie du aussiehst.
Eingriff in dein Leben: Dein Handy wird durchsucht oder dein Standort verfolgt.
Isolation: Du wirst von Freunden und Familie abgeschnitten.
Einschüchterung: Du wirst für verrückt erklärt und verängstigt.
Das Thema geht uns tatsächlich alle an und es gibt auch hier keine gesellschaftlichen und geschlechtsbezogenen Grenzen. Wo hört Fürsorge auf und wo beginnt Kontrolle? Nach welchen Kriterien bewertet man die eigenen Bedürfnisse, auch wenn sie nicht den Bedürfnissen des Partners entsprechen? Wer bestimmt die Grenzen in diesem Gefüge und wann werden die überschritten, ohne dass man es selbst benennen kann? Das sind sehr interessante und persönliche Fragen, die individuell beantwortet werden müssen und mich beschäftigt das sehr, gerade im Hinblick auf die jüngeren Generationen und deren Kommunikationsverhalten. Die Tatsache dass es offizielle Zahlen, wie oft digitale Gewalt vorkommt, in Studien noch gar nicht gibt, zeigt, wie sehr unsere gesellschaftliche und politische Fürsorge der Realität hinterherhinkt. In der Kriminalstatistik werden zwar Straftatbestände wie Beleidigung oder üble Nachrede erfasst – nicht aber, ob digitale Medien dabei eine Rolle gespielt haben. Es ist aber davon auszugehen, dass sich digitale Gewalt zunehmend ausbreitet und immer härtere Ausdrucksformen findet. Viele Menschen bringt das zum Schweigen. Wir alle können sehr viel mehr Schallverstärker sein für diejenigen, die ihre Stimme nicht erheben können.
Im Rahmen von Videoclips geben Sie mit anderen Prominenten wie Nadine Klein reale Erlebnisberichte von Betroffenen wieder. Wie sehr treffen Sie diese Schicksale?
Wörner: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Menschen sich dann bewegen, wenn das Herz berührt wird. Der Kopf ist nicht minder wichtig, wenn es um das Verarbeiten von Schicksalen, Geschichten und schmerzhaften Momenten geht, aber die wirkliche Einsicht und das Aufbrechen von Automatismen erfolgt durch die Berührbarkeit des Herzens, das ist zumindest meine Lebenserfahrung. Das heisst aber im Umkehrschluss nicht, dass man sich nur für Betroffene engagieren kann, wenn man dasselbe Schicksal teilt. Wir leben in einer sehr mediengesteuerten Welt und können uns bestimmten Abstumpfungen nur schwer entziehen, aber ich bin eine Verfechterin des Herzschlags – der wird immer siegen. Und in diesem Sinne ist es notwendig, in einer Kampagne wie dieser von YSL Beauty Menschen zu Wort kommen zu lassen, die aus ihrem Leben erzählen, nicht zuletzt, um denen Mut zu machen, die sich bisher nicht getraut haben, um Hilfe zu suchen und einsam in der Stille mit ihrem Leid sind.
Auch in Spielfilmform lenken Sie die Aufmerksamkeit auf dieses wichtige Thema. In «Die Macht der Frauen» spielen Sie eine Anwältin, die Opfer häuslicher Gewalt berät. Was genau können die Zuschauer hier erwarten?
Wörner: Ich spiele die auf Sexualstrafrecht spezialisierte Anwältin Annabelle Martinelli, die durch die Schicksale ihrer Mandantinnen selbst an persönliche und professionelle Grenzen stösst. Sie ist in der Geschichte der Fels in der Brandung und versucht, die unterschiedlichen Perspektiven aller Beteiligten professionell einzuordnen, was ihr jedoch nicht immer perfekt gelingt. Was ich an dem Film sehr mag, ist, dass er nicht alle Ambivalenz auflösen will, sondern die Grauzonen ausleuchtet. Eine Erzählweise, die man bisher im deutschen Fernsehen bei diesem Thema so noch nicht gesehen hat. Es ist ein sehr trauriger, aber auch sehr warmer Film geworden, der es bis zum Schluss schafft, Fragen aufzuwerfen, über die jeder Zuschauer selbst nachdenken kann. Es kommen so viele unterschiedliche Frauenschicksale in dem Film zu Wort und es gibt nicht für jede die richtige Lösung, letztendlich scheitert auch meine Figur an ihrer Aufgabe, denn sie hat den Fall verstanden, aber nicht die Frau. Ich glaube, wir müssen auch im Fiktionalen sehr viel mehr die Opferperspektive erzählen und damit auch Ohnmacht – der Film von Autor und Regisseur Lars Becker scheut sich nicht an diesen Ort zu gehen.
Welche Rollen spielen die Medien in diesem Kontext?
Wörner: Insbesondere mit Bezug auf Stereotype rund um Gewalt gegen Frauen spielen die Medien eine wichtige Rolle. Wir Medienschaffenden haben eine Verantwortung, wie das Thema Gewalt gegen Frauen in der Berichterstattung und in der Fiktion dargestellt wird. Damit prägen wir die Wahrnehmung des Publikums und der Gesellschaft. Der Film «Die Macht der Frauen» bricht jetzt mal eine einstudierte Rollenzuschreibung, so dass es zu keiner Täter-Opfer-Umkehr kommt, ich würde mit der Figur der Anabelle Martinelli noch gerne ein paar Runden durch Berlin gehen (lacht).
Welchen Rat können Sie Menschen geben, die sich in gewalttätigen Beziehungen gefangen fühlen und keinen Ausweg mehr sehen?
Wörner: Das ist ja die Kernbotschaft: Ihr seid nicht alleine und es gibt Mittel und Wege, sich aus schmerzhaften Lebensrealitäten zu lösen. Traut euch und seid ehrlich mit euch und mutig.