Fast 100 Kandidaten wohnen gar nicht dort, wo sie kandidieren
Es sind nicht nur Studenten: Dutzende Nationalratskandidaten stehen auf Wahllisten des einen, wohnen aber in einem anderen Kanton.
Das Wichtigste in Kürze
- Von wegen Volksvertreter: Dutzende Kandidaten bei den Wahlen 2023 wohnen ausserkantonal.
- Sie sind eher jung, eher links und eher auf einer Zürcher Wahlliste.
- Ausnahmen bestätigen die Regel – und erlaubt ist es auch.
Sie sind mit viel persönlichem Einsatz dabei, verteilen Flyer, kleben Plakate, putzen Klinken, machen Standaktionen, suchen den Kontakt zum Stimmvolk. Denn schliesslich wollen sie gewählt werden, in den Nationalrat, um dort die Interessen «ihrer» Leute zu vertreten. Aber dann stellt sich heraus: Sie wohnen gar nicht in der Region. Sondern in einem anderen Kanton, manchmal nicht einmal einem angrenzenden.
Wohnen hier, kandidieren da
Prominentestes Beispiel dafür ist wohl Magdalena Martullo-Blocher. Die Unternehmerin kandidiert auf der Liste der SVP Graubünden. Dort gibt sie aber nun schon zum dritten Mal ganz offiziell als Wohnort «Meilen» an – also Kanton Zürich.
Rund 90 weitere Kandidatinnen und Kandidaten nehmen es mit der Kantonszugehörigkeit ebenfalls nicht so genau, wie eine Auswertung von Smartvote im Auftrag von Nau.ch zeigt. Dabei fällt auf: Ja, es hat viele Studierende und Mitglieder von Jungparteien dabei. Aber nicht nur.
In die Kategorie «Wochenaufenthalter» dürfte wohl der Jungfreisinnige Fabio Litschi fallen. Ihn hat es nach Luzern gezogen, wo er nun kandidiert, der Wohnort ist aber (noch) St. Niklausen OW. Ähnlich ergeht es demnach Aline Scherrer von den Jungen Grünen Zürich, die eigentlich in Wolfhalden AR wohnt. Oder Olivia Senn, die schon bei den «alten» Grünen Zürich antritt, aber in Homburg TG wohnt.
Umgekehrt verhält es sich bei Leonie Altorfer, mit Jahrgang 2004 eine der Jüngsten: Sie geht in Zürich zur Schule und hat ihren Wohnsitz entsprechend verlegt. Kandidatin ist sie aber in der alten Heimat, auf der Liste der Juso Schaffhausen. Zusammen mit Lukas Tarczali, der in Langwiesen ZH wohnt. Das ist zwar grad ennet dem Rhein, dennoch sind somit 100 Prozent der Schaffhauser Juso-Liste de facto gar keine Schaffhauser.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Die «Auswärtigen» sind besonders zahlreich im Kanton Zürich mit 33 Personen. Danach folgen weitere grössere Kantone wie Bern und Luzern mit je neun und Genf mit sieben ausserkantonalen Kandidierenden. In den kleinen Kantonen der Innerschweiz und in den beiden Appenzell kandidiert dagegen niemand mit Wohnsitz ausserhalb des Wahlkreises.
Tendenziell sind diese eher mobilen Polit-Menschen eher links und eher jung. Aber eben nur eher: Es gibt auch je vier Jungfreisinnige und SVPler. Zwar machen die U30 ein Drittel aus, aber immerhin jeder Zehnte ist über 60 Jahre alt. Manager (23 Prozent) hat es gar mehr als Studenten (20 Prozent), vier Prozent sind Rentner.
Besonders viele «kantonal diverse» Personen scheint es bei den Kleinstparteien zu haben. So kandidieren bei der Piratenpartei Bern unter anderem Informatik-Dozent Simon Kramer aus Lausanne VD und Jurist Hans-Peter Oeri aus Samedan GR. Bei den Libertären Zürich finden sich zwei Aargauer, zwei Luzerner, ein Zuger, ein Baselbieter, ein St. Galler, ein Freiburger und ein Bündner.
Aber immerhin auch noch 15 Zürcher und Silvan Amberg, der – als Steuerexperte – natürlich Panama als Wohnsitz angibt. Aber Auslandschweizer zählen in dieser Auswertung eh nicht.
Alles völlig legal
Ems-Chefin Martullo-Blocher erhält Gesellschaft von der Digital-Unternehmerin Nina Röhrs, die für die GLP ZH kandidiert, aber drei Stunden entfernt in Zuoz GR wohnt. Oder Mitte-Politiker Josef Wiederkehr, dessen Bauunternehmung und Wahlplakate nach wie vor im Kanton Zürich stehen. Den Wohnsitz aber hat er ins zugerische Buonas verlegt.
Das habe alles seine Richtigkeit, erklärt die Bundeskanzlei auf Anfrage: «Die Kandidaten für den Nationalrat müssen ihren politischen Wohnsitz nicht in dem Kanton haben, in dem sie kandidieren.» Denn es gehe um eine eidgenössische Wahl und das passive Wahlrecht. Nationalratsmitglieder würden das gesamte Schweizer Volk vertreten, der Kanton bilde lediglich den Wahlkreis.
Selbstredend kann man aber nur auf einer einzigen Wahlliste kandidieren, und: Stimmen (also aktives Wahlrecht) kann man nur am politischen Wohnsitz. Insofern ist es also völlig korrekt, wenn Bus- und Tramchauffeur Raphael Bochsler im Kanton Bern kandidiert, aber in Schmitten FR wohnt und wählt. Schliesslich heisst seine Liste nicht «Berner», sondern «Schweizer Demokraten». Nur sich selbst wählen, das kann er so nicht.