Ignazio Cassis schreibt Corona-Tagebuch: «Macht macht süchtig»
Der ehemalige Tessiner Kantonsarzt und heutige Bundesrat Ignazio Cassis schreibt sein Corona-Tagebuch. Es geht um Föderalismus, Konflikt und Wohlstand.
Das Wichtigste in Kürze
- Während der Krise regiert der Bundesrat zu grossen Teilen alleine per Notrecht.
- Das hat bei Ignazio Cassis für schlaflose Nächte gesorgt, verrät er in der «NZZ».
- Der Tessiner fordert für die Krisenbewältigung mehr Zusammenhalt, wie vor einem Jahr.
Die Corona-Pandemie ist für alle Menschen auf dem Planeten ein aussergewöhnliches Phänomen. Für diejenigen, welche aber Entscheidungen fällen müssen, stellen sich zuvor unzumutbare Fragen. Bundesrat Ignazio Cassis gewährt nun einen Einblick in sein Leben während der grössten Krise, die die Schweiz seit dem zweiten Weltkrieg erlebt hat. Das ist selten; bisher hatte Cassis zurückhaltend zum Thema Coronavirus kommuniziert.
In der «NZZ» schreibt der ehemalige Tessiner Kantonsarzt seine Gedanken nieder, blickt in die Vergangenheit und Zukunft. Er könne sich gut an die ersten Tage der Pandemie erinnern: «Es war absurd.» Der Bundesrat habe per Notrecht im Alleingang regiert, jede Stunde habe sich «die Fakten- und Gefühlslage» verändert.
Ignazio Cassis: «Tun wir das Richtige?»
Besonders beeindruckt habe Cassis aber ein Bild aus Wuhan, China. Die Behörden gaben den Bau eines Spitals in Auftrag, welches innert Rekordzeiten errichtet wurde. Das hat den Aussenminister fasziniert. In der Schweiz hätte ein solches Vorhaben 30 Jahre benötigt.
Beschäftigt habe Ignazio Cassis aber die Rolle des Entscheidungsträgers: «Tun wir das Richtige?», habe er sich oft gefragt. Der Diskurs rund um die Richtigkeit oder Falschheit der bundesrätlichen Entscheidungen habe gefehlt. Somit sei Konfliktpotenzial entstanden.
Lieber die Wirtschaft retten oder Menschenleben? Solches Schwarz-Weiss-Denken habe Cassis gestört, wie er schreibt. Er sieht das als Ergebnis unseres Wohlstands: «Wer Gesundheit und Wirtschaft zu Gegensätzen macht, ignoriert die Tatsache, dass das Einkommen der entscheidende Faktor für den Gesundheitszustand eines Volkes ist. Wirtschaft und Gesundheit sind zwei Seiten derselben Medaille.»
Der Tessiner kommt aber auch auf Grenzregionen und den Föderalismus zu sprechen – natürlich. Der Südkanton habe die Pandemie völlig anders erlebt als der Rest der Schweiz. «Wir haben im Tessin eine Dramaturgie erlebt, die am Südeingang des Gotthardtunnels aufhörte», schreibt Cassis.
Föderalismus als Antidot gegen Machtsucht
Doch der «Kantönligeist» habe auch seine positiven Seiten: «Macht macht süchtig, auf jeder Stufe», schreibt Ignazio Cassis. «Der Föderalismus ist das Antidot.» Er brauche aber auch Gemeinsinn, etwas, was in der letzten Zeit Mangelware sei.
«Während wir uns im letzten Frühjahr noch mit kollektiver Verbundenheit gegen das übermenschliche Virus stemmten, wird der Ton je länger, desto rauer.» So beendet Cassis seinen Tagebucheintrag. Er warnt vor einer dritten Welle, die wie eine Rückkehr des Winters den Frühling bedroht: «Es liegt an uns, uns von dieser weissen Decke nicht erdrücken zu lassen.»