Politologe Longchamp: 99%-Initiative wird wohl deutlich abgelehnt
Am 26. September stimmt die Schweiz über die 99%-Initiative der Juso ab. Sie will Kapitaleinkommen stärker besteuern und weiter Einkommenssteuern entlasten.
Das Wichtigste in Kürze
- Am 26. September stimmt die Schweiz über ein Steuerbegehren ab: die 99%-Initiative.
- Die Initiative wurde von den Juso lanciert und hat wenig Chancen, angenommen zu werden.
- Politologe Claude Longchamp geht aus mehreren Gründen von unter 40 Prozent Ja-Anteil aus.
Was die Volksinitiative will
Mittels Volksinitiative verlangt die Juso Schweiz, Kapitaleinkommen 1,5 Mal so stark wie Arbeitseinkommen zu besteuern. 100’000 Franken gelten als Freibetrag, der ausgenommen wird.
Mit dem erwarteten Mehrertrag sollen die Einkommenssteuern für Personen mit einem tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen gesenkt werden. Er kann auch für die soziale Wohlfahrt, für die Bildung und für die Gesundheit verwendet werden.
Offiziell heisst das Volksbegehren «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern». Verkürzt wird dies zu 99% -Initiative. Denn die Juso gehen davon aus, dass ihre Initiative 1 Prozent der Personen in der Schweiz belastet, 99 Prozent aber entlastet.
Im Argumentarium der Initianten steht, dass die 99%-Initiative erstens rückverteile, was ungleich verteilt wurde, zweitens durch Einschränkung von Privilegien der Superreichen Gerechtigkeit herstelle, drittens mehr Geld ins Portemonnaie bringe, viertens Frauen stärke und fünftens Steuerdumping bekämpfe.
Das 27-köpfige Initiativkomitee besteht mehrheitlich aus Vertreter:innen der SP, minderheitlich aus solchen der Grünen und weitere Organisationen meist aus dem linken Spektrum. Beigebracht wurden 109’322 gültige Unterschriften, namentlich aus den Kantonen Zürich, Bern und Basel-Stadt.
Die Linksparteien, namentlich SP und Juso, wollen sich damit in Steuerfragen weiter profilieren. Sie sind referendumsfähig, wie sie etwa bei der Unternehmenssteuerreform im Verbund mit weiteren linken Kräften zeigten. Sie gelten aber nicht als initiativfähig. Noch nie wurde eine ihrer Steuerinitiativen angenommen.
Klare politische Polarisierung
Lanciert wurde die Initiative 2017. Zustande gekommen ist sie 2019 und im Bundesrat wurde sie 2020 behandelt. Das Parlament hat sie in der Märzsession abgelehnt. Das gilt auch für den moderateren Gegenvorschlag von links. Im Nationalrat stimmten 66 Volksvertreter:innen dafür, 128 dagegen. Im Ständerat lautete das Endergebnis 32 zu 13 Stimmen. Dafür waren jeweils rotgrüne Parlamentarier:innen, während die Vertreter:innen aller anderen Parteien geschlossen dagegen stimmten.
Bundesrat und Parlament halten eine Anpassung der Steuern auf Kapitalgewinnen nicht für nötig. 1 Prozent der Steuerzahlenden trage mehr als 40 Prozent der Bundessteuer bei; umgekehrt würden die 50 Prozent, die am wenigsten zahlen, genau 2 Prozent beibringen, wird argumentiert. Damit werde genügend für die Steuergerechtigkeit getan.
Zu erwarten ist in erster Linie eine politische Spaltung zwischen bürgerlichen und rotgrün Wählenden zu erwarten, vermittelt durch sozioökonomische Interessen, die sich aus dem Einkommen respektive der Besteuerung ergeben.
Potenzial und Referenz
Eine Schätzung des Zustimmungspotenzials, das auf einem systematischen Vergleich von Schlussabstimmungen im Nationalrat mit Volksabstimmungsergebnisse aufbaut, kommt auf einen Zustimmungswert von unter 40 Prozent. Abweichungen in beide Richtungen sind an sich möglich, namentlich, wenn es zu einer ganz unüblichen Kampagne kommt.
Letztmals über eine ähnliche Volksinitiative abgestimmt wurde 2001. Damals war der SGB der Träger der sogenannten Kapitalgewinnsteuer. Sie verlangte die Einführung einer neuen Bundessteuer, welche die von Privatpersonen erzielten Kapitalgewinne auf Aktien mit mindestens 20 Prozent belastet hätte. Sie erzielte 38 Prozent der Stimmen, und kein Kanton befürwortete sie. Das hatte auch damit zu tun, dass Steuern auf Kapitalgewinnen angesichts des Steuerwettbewerbs obsolet erschienen, die Rezession in den 1990er Jahre tiefere, nicht höhere Steuern erstrebenswert machten und Steuerharmonisierung als Sargnagel für Kernfamilien galten.
Orientiert man sich an Volksinitiativen der Juso, erinnert man sich zuerst an die 1:12 Initiative. Sie forderte, dass niemand mehr als zwölfmal so viel verdienen darf wie die am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter:innen im selben Unternehmen. Unterstützt wurde sie damals von den Grünen, der CSP, den SD und dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund. In der Abstimmung vom 24. November 2013 wurde die Initiative mit 65 Prozent Nein Stimmen abgelehnt. Kein Kanton war dafür. Am meisten Zustimmung gab es im Kanton Tessin, der heftigste Widerspruch kam aus dem Kanton Zug.
Bisher flauer Abstimmungskampf
Im bisher eher flauen Abstimmungskampf hat die EVP Ja gesagt; damit verdeutlicht sie ihre Absicht, sich ein linkskonservatives Profil zu geben. Das Präsidium der Mitte-Partei stellt sich gegen die Volksinitiative; ihr folgt die eigene Jungpartei. Nein sagt auch die FDP.
Erwartet wird, dass, die SP und die Grünen eine Ja-Parole herausgeben, alle anderen Parteien aber auf der Nein-Seite sein werden. Typologisch spricht das für eine klare, wirtschaftspolitisch motivierte Polarisierung zwischen rechts und links, wobei die Mehrheit des Zentrums zur rechten Seite neigt.
Auf der Ja-Seite wirken vorerst die Jungsozialisten namentlich in französischsprachigen Kantonen mit Aktivitäten. Hier wirbt man vor allem mit Steuergerechtigkeit. Namentlich nach der Corona-Krise mit Polarisierungen zwischen Reich und Arm müsse sie wieder hergestellt werden.
Im Nein-Lager stehen mit Economiesuisse und Gewerbeverband die Dachverbände der Wirtschaft. Unterstützt werden sie von Interessengruppen der Familienunternehmen, der Startup-Szene und der Digitalisierungsbranche. Sie beklagen voraussichtliche Arbeitsplatzverluste und Beschränkungen von Innovationen. Nach ihrer Auffassung läuft die Forderung der Juso auf eine neue Steuer hinaus.
Ausblick auf den Abstimmungsausgang
Prognosen zum Abstimmungsausgang gibt es bis jetzt keine. Dennoch rechnen die meisten angefragten Auguren mit einer Ablehnung der Vorlage. Die Geschichte, die Beratung in den Räten und die politische Konstellation sprechen dafür.
Erwartet werden kann, dass die Volksinitiative in frühen abstimmungsbezogenen Umfragen eine minderheitlich oder knapp mehrheitliche Zustimmung findet. Doch dürfte diese im Abstimmungskampf wie fast immer bei Volksinitiativen kleiner werden. Hauptgründe sind diesmal, dass die Vorlage im Parlament extrem polarisierte, und die Ja-Seite auf eine eigentliche Vorkampagne weitgehend verzichtet.
Umgekehrt ist mit einer heftigen Nein-Kampagne seitens der Wirtschaft und betroffener gesellschaftlicher Kreise zurechnen.
Exkurs: Normales Abstimmungswochenende erwartbar
Aus heutiger Sicht kann am 26. September 2021 angesichts bloss zweier Vorlagen von einer leicht unterdurchschnittlichen Stimmbeteiligung ausgegangen werden. Dafür spricht auch, dass keine Vorlage einem prioritären Bevölkerungsproblem anspricht. Dieses ist, wenn auch etwas abnehmend, bei der Corona-Problematik angesiedelt. Das Pandemieumfeld hat die Skepsis gegenüber dem staatlichen Handeln gestärkt, das generalisierte Institutionenvertrauen aber nicht einbrechen lassen.
Medial dürfte das Interesse an der Abstimmung zu «Ehe für alle», über die gleichzeitig entschieden wird, grösser sein. Werberisch dürfte die 99%-Initiative mehr Mittel binden, vor allem auf der Nein-Seite. Die Ja-Seite dürfte versuchen, mit auffälligen Aktionen die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen.
In der laufenden Legislaturperiode ist es die «Mitte», die sich am häufigsten gleich wie die Mehrheit der Stimmenden positionierte, gefolgt wird sie von der FDP. Beide lehnen die 99%-Initiative ab.
Bisher spricht wenig für etwas anderes als einen Normalabstimmungskampf.