Ukraine Krieg: Claude Longchamp erteilt Bundesrat schlechte Noten
Die Schweiz hat 50'000 Flüchtlinge aus dem Ukraine-Krieg aufgenommen. Das habe funktioniert – doch der Bundesrat wirke handlungsunfähig, sagt Claude Longchamp.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Ukraine-Krieg hat die Schweizer Sicherheits- und Neutralitätspolitik geprägt.
- Die Lieferung von Waffen an die Ukraine bleibe aber ausgeschlossen, sagt Claude Longchamp.
- Im Nau.ch-Talk erteilt der Politologe dem Bundesrat ein mässiges Zeugnis.
Seit drei Monaten tobt mittlerweile der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Während noch immer die Waffen sprechen, haben sich auch für die Schweiz neue Herausforderungen ergeben. Politologe Claude Longchamp zieht im Nau.ch-Talk eine erste Bilanz.
Er ist der Ansicht, dass die Behörden bei der Flüchtlingsaufgabe einen «guten» Job gemacht haben. Schliesslich sei die Zahl von 50'000 Ukrainerinnen und Ukrainern in etwa so hoch wie die jährliche Zuwanderung. «Die Schweiz hat realisiert, dass sie hier nicht abseitsstehen kann», so Longchamp.
Longchamp: «Solidarität verschwindet nicht einfach so»
Dass sich dabei auch organisatorische Probleme ergeben würden, liege auf der Hand. «Die Grundwelle der Solidarität konnte aber so hochgehalten werden, dass die Probleme zur Seite gedrängt werden konnten.»
Seit kurzem ertönt allerdings aus SVP-Kreisen bereits die Forderung, nicht mehr allen Ukrainern den Schutzstatus S zu gewähren. Schliesslich seien gewisse Gebiete im Moment nicht mehr stark umkämpft. Dazu meint der Politologe: «Die Solidarität verschwindet nicht einfach, das wird bewusst bewirtschaftet.»
Die SVP sei wie bereits bei der Pandemie mit ihrer Anti-Mainstream-Politik in der Defensive. «Sie stand von Anfang an im Verdacht, dass sie Putins Krieg nicht verurteilen und Oligarchen Schlupflöcher ermöglichen will», so Longchamp. Das Thema klebe deshalb an der Rechtspartei.
«Ausgang der Neutralitäts-Debatte ist offen»
Eine komplett neue Diskussion entstand durch den Krieg über die Schweizer Neutralität. Für Longchamp ist klar: Das Neutralitätsrecht dürfe nicht angetastet werden. Konkret: «Direkte Waffenlieferungen werden nicht stattfinden.»
Mehr Handlungsspielraum gebe es in der Neutralitätspolitik. Hier hat die Eidgenossenschaft entscheiden, relativ weit zu gehen – und die Sanktionen der EU zu übernehmen. Aktuell gebe es aber heikle Punkte, die diskutiert würden, etwa die Lieferung von Schutzhelmen.
Im Gegensatz zur Pandemie-Politik würden die Parteien diese Debatte massgeblich prägen. «Der Ausgang ist noch relativ offen», sagt Longchamp auch in Bezug auf die von Christoph Blocher angekündigte Neutralitäts-Initiative. Ein Nato-Beitritt sei nach wie vor unrealistisch. De facto sei die Schweiz aber ein «Passiv-Mitglied», da ein direkter russischen Angriff unvorstellbar sei.
«Bürgerliche nutzten Fenster für Rüstungsausgaben»
Ganz konkrete Konsequenzen hatte der Krieg auf die Sicherheitspolitik. So erhöht der Bundesrat auf Geheiss des Parlaments das Armee-Budget. «Es ging für die Bürgerlichen ein Fenster auf, in dem solche Vorstösse mehrheitsfähig sind», erläutert der Politologe. Es werde allerdings dadurch zu heftigen Verteilkämpfen kommen.
In Bezug auf den Kampfjet gelte es vorerst abzuwarten. Zwar habe die linke Anti-F35-Initiative «nicht den grössten Rückhalt». Allerdings werde es demokratiepolitischen Widerstand geben, sollte der Bundesrat den Kaufvertrag vor der Volksabstimmung unterschreiben.
Während in der Rüstungs-Debatte die rechten Parteien profitierten, könnten Grüne und SP in der Klimapolitik punkten. Denn: «In ganz Europa herrscht grosse Einigkeit, dass die Abhängigkeit von russischem Gas reduziert werden muss. Das könnte den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen», glaubt Longchamp.
Longchamp erteilt Bundesrat schlechte Noten
Keine guten Noten verteilt der Experte in der Krise dem Bundesrat. «Er ist nicht in Bestform und wird von der Geschäftsprüfungskommission sehr scharf kritisiert für die mangelnde Kriegsvorbereitung», analysiert Longchamp. Die Regierung wirke «nicht wirklich handlungsfähig», niemand übernehme die Führung. Das Ganze wirke sehr uneinheitlich.
Wie bereits in der Libyen-Krise oder dem Scheitern des Rahmenabkommen habe das Gremium in schwierigen Zeiten Mühe. Erschwert werde die Situation durch die im nächsten Jahr anstehenden Wahlen. «Ich bin nicht sicher, ob der Bundesrat gut aus dieser Situation kommt.»