Antisemitismus-Meldestelle: Jüdische Kritik an documenta ignoriert
Die von einem Antisemitismus-Eklat überschattete documenta fifteen in Kassel hat bei deutschen Jüdinnen und Juden zu einem nachhaltigen Vertrauensverlust geführt.
Das Wichtigste in Kürze
- Zu diesem Ergebnis kommt eine am Donnerstag veröffentlichte Auswertung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen).
«Die Analysen des Antisemitismus wurden auf und von der documenta zurückgewiesen, jüdische Stimmen beschwichtigt und überhört und es bleibt die Phrase der Antisemitismusvorwürfe. Dabei ging und geht es um konkreten Antisemitismus», sagte Projektleiterin Susanne Urban laut Mitteilung in Marburg.
Bei der documenta fifteen im Sommer 2022 sollte sich alles um Kunst drehen. Stattdessen wurde die neben der Biennale in Venedig bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst wegen immer neuen Antisemitismus-Vorwürfen zum Politikum. Schon im Vorfeld waren erste Stimmen laut geworden, die dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa und einigen eingeladenen Künstlern eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung der Schau wurde eine Arbeit mit antisemitischer Bildsprache entdeckt und abgehängt. Später lösten weitere Werke scharfe Kritik und Forderungen nach einem Abbruch der Ausstellung aus.
«Wir haben hier eine Divergenz in Perspektiven und Wahrnehmungen», sagte Urban am Donnerstag bei der Präsentation der gut 130 Seiten starken Broschüre, in der insbesondere jüdische Stimmen und antisemitismuskritische Analysen zur documenta fifteen Raum finden. Trotz aller Erinnerungsstrategien und Gedenktage finde in Deutschland kein angemessener und aufrichtiger Umgang mit Antisemitismus statt.
Die von jüdischen Institutionen vor Ort geäusserte Kritik am Umgang mit Antisemitismus sei als Befindlichkeit abgetan, ignoriert oder abgewehrt worden, erklärte Tanja Kinzel vom Bundesverband Rias. «Diese Nichtbeachtung jüdischer Kritik an antisemitischen Vorkommnissen ist charakteristisch für den Umgang mit Antisemitismus in der Öffentlichkeit.» Während die mediale Aufmerksamkeit mit dem Ende der documenta fifteen nachgelassen habe, wirkten die Folgen für die Betroffenen noch lange nach.
RIAS Hessen ist angebunden an das Demokratiezentrum Hessen an der Philipps-Universität Marburg. Die Meldestelle erfasst und dokumentiert seit Frühjahr 2022 antisemitische Vorfälle in Hessen, wo auch Kassel liegt, und leitet Betroffene an Beratungsstellen weiter. Der Einrichtung wurden auch Werke und Vorfälle rund um die documenta fifteen gemeldet. In einem Monitoring-Bericht zu der Kunstschau will RIAS Hessen nach eigenen Angaben in einigen Wochen genauere Zahlen und Analysen vorlegen.