Kolumne

Alle Jahre wieder: Das Familientreffen-Trauma

Judith Heede
Judith Heede

Bern,

Familientreffen – ob Weihnachten oder weil Tante Uschi den Grill anwirft – sind oft weniger Harmonie, als das Aufkratzen alter Wunden. Ich erkläre Ihnen, warum.

Familienfeier
Wenn die ganze Familie zusammenkommt, kann es schon mal krachen. - Depositphotos

Das Wichtigste in Kürze

  • Kindheitstraumata prägen dauerhaft und werden bei Familientreffen oft reaktiviert.
  • Transgenerationales Trauma verstärkt Familienkonflikte.
  • Familientraditionen und Rituale wirken als emotionale Trigger.

Na, wie waren Ihre Feiertage? Vielleicht erinnern Sie sich an das vergangene Weihnachten, den Neujahrsbesuch bei Verwandten oder die Hochzeit eines Cousins – Familientreffen bieten stets eine Bühne für die ganz eigenen Dynamiken des Zusammenlebens.

Egal, ob es sich um festliche Anlässe wie Konfirmationen, Jubiläen oder ein sommerliches Grillen im Garten handelt: Was für manche wie ein Hort der Freude klingt, ist für andere ein emotionales Minenfeld.

Grillen garten Familie
Ob Konfirmation, Jubiläum oder Gartenparty – für die einen Freude pur, für die anderen eine emotionale Achterbahn. - Depositphotos

Trigger lauern überall. Ein harmloser Kommentar wird zur Bombe, und die sonst so friedliche Kaffeetafel wird zum Schauplatz für lange verdrängte Konflikte. Kindheitstraumata, transgenerationale Belastungen und ungeklärte Spannungen entfalten sich wie ein Drama, das niemand geplant hat.

Familientreffen: Eine emotionale Herausforderung

Warum scheinen gerade diese Zusammenkünfte so oft aus dem Ruder zu laufen? Bessel van der Kolk, führender Experte für Trauma und Autor von The Body Keeps the Score, beschreibt es treffend: «Trauma ist nicht das Ereignis selbst, sondern das, was es in uns bewirkt.» Viele von uns tragen Verletzungen aus der Kindheit, die durch den Rahmen eines Familientreffens reaktiviert werden können.

Ob es sich um die wiederholte Kritik der Eltern, ständige Vergleiche oder das Gefühl handelt, nie gut genug zu sein – solche Erfahrungen prägen uns tief und können in uns als Erwachsene unerwartet aufbrechen.

Gabor Maté, ein weiterer führender Experte, ergänzt: «Unser Gehirn speichert Erinnerungen nicht nur als Bilder, sondern auch in unseren emotionalen und körperlichen Reaktionen.»

Begegnungen mit der Familie rufen unbewusst alte Muster hervor, sei es durch bekannte Stimmen, vertraute Gerüche oder spezifische soziale Dynamiken. «Wenn wir als Kinder gelernt haben, in einer angespannten Umgebung auf Alarmbereitschaft zu schalten, bleibt das ein Teil unseres emotionalen Programms», erklärt Maté.

Transgenerationale Lasten

Und als ob unsere eigenen Wunden nicht schon genug wären, tragen wir oft auch die emotionalen Altlasten früherer Generationen mit uns herum. Dieses Phänomen wird als transgenerationales Trauma bezeichnet.

Richard Schwarz, Begründer des Internal Family Systems (IFS), beschreibt es so: «Unsere innere Welt ist wie eine Familie, in der die Verletzungen unserer Vorfahren immer noch präsent sind.»

Wenn etwa unsere Grosseltern ihre Gefühle nie ausdrücken konnten, kann diese emotionale Zurückhaltung unbewusst an die nächste Generation weitergegeben werden.

Solche Muster machen es schwer, zwischen den eigentlichen Konflikten und den übernommenen Verletzungen zu unterscheiden. Und so stehen wir plötzlich da, irritiert über einen Kommentar, den unsere Tante beiläufig gemacht hat, ohne zu verstehen, warum er uns so tief trifft.

Die Mechanik familiärer Konflikte

Ein Familientreffen verstärkt solche Dynamiken auf eine Weise, die schwer zu kontrollieren ist. Zum einen, weil diese Ereignisse tief in unserer Erinnerung verankert sind. Bessel van der Kolk erklärt: «Das Gehirn ist darauf programmiert, sich zu erinnern.

Puzzle
Vertraute Düfte, Stimmen oder sogar Muster wecken Erinnerungen im Gehirn – und ein unbedachter Satz kann alte Emotionen wie ein Funke neu entfachen. - Depositphotos

Alles, was uns vertraut erscheint – sei es das Serviettenmuster, ein bestimmtes Spiel, das Aroma eines Essens oder der Klang einer Stimme – kann Erinnerungen und Gefühle wachrufen, die wir längst vergessen glaubten.» So wird ein unbedachter Satz zum Funken, der eine Flamme lange unterdrückter Emotionen entzündet.

Zum anderen zwingt uns die erzwungene Nähe oft, mit Menschen zu interagieren, die wir sonst eher meiden würden. Dieses Umfeld aktiviert unser Stresssystem und bringt uns in alte Rollen zurück. Fight, Flight oder Freeze – die Überlebensmechanismen, die in bedrohlichen Situationen aktiviert werden – sind plötzlich wieder präsent.

Dies erklärt, warum wir bei einem Familienessen schnell aggressiv reagieren (Fight), uns innerlich abkapseln (Flight) oder handlungsunfähig werden (Freeze). Solche Reaktionen sind zwar instinktiv, tragen aber wenig zur Lösung bei.

Der unsichtbare Druck

Der kulturelle Druck, Familientreffen perfekt zu gestalten, spielt ebenfalls eine Rolle. Unsere Gesellschaft projiziert ein Idealbild, das von Harmonie, Liebe und Zusammenhalt geprägt ist. Doch dieses Bild ist oft unerreichbar.

Alfie Kohn, Psychologe und Autor, bringt es auf den Punkt: «Der Druck, etwas perfekt zu machen, ist ein Spiegel unserer konsumorientierten Gesellschaft, die uns suggeriert, dass Glück käuflich ist.»

Dazu kommt, dass die Erwartungen nicht nur von aussen kommen, sondern oft in uns selbst verwurzelt sind. Viele Menschen haben in der Kindheit gelernt, die Erwartungen anderer über die eigenen Bedürfnisse zu stellen. Gabor Maté erklärt: «Menschen, die sich selbst überfordern, haben oft das Gefühl, für ihre eigenen Bedürfnisse keinen Raum zu haben.»

Wege aus dem Konfliktkreislauf

Doch es gibt Möglichkeiten, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Der erste Schritt besteht darin, sich bewusst zu machen, dass Perfektion weder realistisch noch notwendig ist. Wie Gabor Maté sagt: «Ein Familientreffen muss nicht perfekt sein, um bedeutsam zu sein.» Es hilft, die Erwartungen herunterzuschrauben und den Fokus auf das eigene Wohlbefinden zu lenken.

Selbstfürsorge spielt dabei eine Schlüsselrolle. Menschen, die dazu neigen, sich für andere aufzuopfern, sollten lernen, Grenzen zu setzen. Das bedeutet, nicht nur Nein zu anderen, sondern auch Ja zu sich selbst zu sagen.

Frau am See
Selbstfürsorge ist jetzt besonders wichtig und kann von einem heissen Bad bis zum Spaziergang in der Natur alles sein. - Depositphotos

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Kommunikation. Statt Konflikte zu vermeiden oder sich zurückzuziehen, kann ein offenes Gespräch – idealerweise vor dem Treffen – helfen, Spannungen zu entschärfen. Therapeutische Ansätze wie das IFS-Modell können unterstützen, verletzte innere Anteile zu erkennen und zu integrieren.

Neue Traditionen schaffen

Ob es um Weihnachten, eine Taufe oder einen Familiengeburtstag geht – Familientreffen bieten die Gelegenheit, alte Muster zu durchbrechen und neue Traditionen zu schaffen. Es geht nicht darum, alles zu vermeiden, sondern darum, Verbindungen zu schaffen, die auf Authentizität und Akzeptanz beruhen.

Und wenn der Kuchen doch anbrennt oder die Konversation ins Stolpern gerät? Tief durchatmen. Denn manchmal sind es gerade die unperfekten Momente, die den Weg für ein ehrlicheres, menschlicheres Miteinander ebnen. Weniger Drama, mehr Menschlichkeit – das könnte die beste Tradition von allen sein.

Über die Autorin

Judith Heede ist eine deutsche Autorin, die sich seit über 20 Jahren intensiv mit dem Thema mentale Gesundheit auseinandersetzt. Als ausgebildete Journalistin schreibt sie heute für verschiedene Medien über Mental Health und arbeitet als Motivational Speaker und Coach.

Neben ihrer praktischen Arbeit erweitert Judith Heede ihr Wissen in akademischen Kontexten. Sie nimmt an den Master-Events zu Trauma, psychischer Gesundheit und Wohlbefinden an der University of Oxford teil und studiert hier zudem Psychologie im Rahmen eines «Certificate of Higher Education».

Kommentare

User #2592 (nicht angemeldet)

Bin froh,dass wir es in unserer Fam./ Verwandschaft gut untereinander haben. Freue mich immer wenn wir uns zwischendurch mal treffen. Wahrscheinlich ist das je länger je nehr eine Ausnahme

User #1584 (nicht angemeldet)

Mit dem FamilienSeich ist es lange vorbei, meinerseits. Irgendwann ist Mann der Luegen ueberdruessig, ob nun mit oder ohne Mercedes. Hossa Dino del P.

Weiterlesen

Frau breitet Arme aus, Spaziergang im Schnee
2 Interaktionen
Wandern
13 Interaktionen

Mehr Kolumne

poly-liebe
605 Interaktionen
Narzissmus Kolumne
63 Interaktionen
Brunschweiger Kolumne
551 Interaktionen
Teaser
640 Interaktionen