Italien mal auf Französisch: Turin im Piemont

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Im Schatten Mailands wurde Turin als Reiseziel lange unterschätzt. Dabei verbindet die Stadt am Fusse der Alpen französischen Stil und uritalienische Lebensart.

Stadt Fluss Turin Wald Panorama
Ein Hauch von Paris weht durch die Stadt: nicht nur, weil die alles überragende Mole Antonelliana ein bisschen an den Eiffelturm erinnert. - Ute Müller/dpa-tmn

Das Wichtigste in Kürze

  • Turin liegt in Italien, am Fuss der Alpen – etwa eine Autostunde von Frankreich entfernt.
  • Französische Kultur ist präsent, seit Turin ab 1563 Regierungssitz der Savoyer war.
  • Mit ihnen kam der Gusto an feinen Kaffee- und Schokoladenerzeugnissen und barocke Pracht.
  • Ur-eigen italienisch dagegen ist das Fiat-Werk, das hier 1899 die Produktion aufnahm.

Turins berühmteste Spezialität wird in einem Glas serviert – und darf bloss nicht umgerührt werden.

Das Bicerin ist eine Mischung aus heisser Schokolade, Espresso und kalter Crema di Latte. «Die drei Schichten dürfen nicht gemischt werden, sonst geht der Effekt verloren», sagt Viviana vom Caffè Al Bicerin.

Kaffee tischdecke Glas Metallbehälter
Das Bicerin, übersetzt «das Gläschen», ist das typische Getränk Turins. - Caffè Al Bicerin/dpa-tmn

Das Caffè wurde 1763 gegründet, das Bicerin soll hier, im ältesten Kaffeehaus der Stadt, erfunden worden sein.

Viviana ist eine der vier Besitzerinnen des Kaffeehauses. Sie erzählt: «Wenn die Turiner früher in die Kirche Santuario della Consolata gegenüber gingen, tranken sie nach dem Gottesdienst ein Bicerin.»

Ein Glas ist so gehaltvoll, dass es durchaus ein Morgenessen ersetzen kann.

Die Savoyer brachten barocke Pracht

Auch die erste heisse Schokolade, die «Cioccolata calda», soll einst in Turin erfunden worden sein.

Die Mitglieder des aus Frankreich stammenden Adelsgeschlechts der Savoyer, die die Hauptstadt ihres Königreichs im Jahr 1563 von Chambéry nach Turin verlegten, wurden im Laufe der Zeit regelrecht süchtig nach Schokoladenerzeugnissen.

Die Savoyer brachten nicht nur ihren Hang für Gaumenfreuden, sondern auch viel barocke Pracht nach Turin und in die Umgebung. Mehr als ein Dutzend ihrer Schlösser steht heute auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes.

Schloss Garten Front Versailles
Mit dem Venaria Reale wollten die Erbauer dem Schloss Versailles nacheifern. - Ute Müller/dpa-tmn

Hierzu zählt etwa der etwas ausserhalb der Stadt gelegene Palast von Venaria Reale, dessen Erbauer der Pracht eines grossen Vorbilds nacheiferten. So erinnert etwa die elegante Grosse Galerie des Königsschlosses an den Spiegelsaal von Versailles.

Beeinflusst von Frankreich, aber ur-italienisch

Turin liegt am Fuss der Alpen, die Grenze zu Frankreich ist nur eine gute Autostunde entfernt.

Grafik Turin Innenstadt
Der französische Einfluss macht sich in Turin an vielen Ecken bemerkbar – doch die Stadt hat ihre ganze eigene Identität. - dpa-tmn

Die Beziehungen zum Nachbarland sind nicht immer einfach gewesen, wie der Turiner Historiker und Schriftsteller Alessandro Barbero sagt:

«Mehrere Male versuchten die Franzosen, unsere Stadt einzunehmen, doch sie scheiterten an ihren hervorragenden Verteidigungssystemen.»

Die Basilika Superga zeugt davon. Sie ist eines von Turins Wahrzeichen, von hier hat man einen wunderschönen Blick auf die ganze Stadt.

Savoyen-Herzog Viktor Amadeus II. liess die Basilika einst als Dank dafür erbauen, dass man die Angriffe der französischen Truppen abwehrte, die «Sonnenkönig» Ludwig der XIV. geschickt hatte.

Basilika Parkplatz Abendlicht Kuppel
Von der Basilika Superga aus hat man einen Blick über die ganze Stadt. - Ute Müller/dpa-tmn

«Die Nähe zu Frankreich hat uns natürlich beeinflusst, obwohl wir im Herzen ur-italienisch geblieben sind», sagt Barbero beim Espresso auf der im Pariser Stil errichteten Piazza San Carlo.

Man fühlt sich Mailand überlegen

Die Ursprünge Turins reichen zwar bis in die Zeit der Römischen Reiches zurück. Doch erst die Savoyen-Herzöge setzten die Stadt in Szene, liessen breite Boulevards und majestätische Piazzas errichten.

Die Stadtplanung mutet zentralistisch an – wie in Frankreich.

Strasse Zebrastreifen Architektur französisch Rundbögen
Die Savoyer prägten das Stadtbild, das an vielen Ecken französisch anmutet. - Ute Müller/dpa-tmn

«Sie basiert auf einem schachbrettartigen Strassensystem, stets ausgehend vom Savoyer Schloss an der Piazza Castello», erläutert Barbero.

Diese Ordnung und Geradlinigkeit ist einer der Gründe, warum sich die Turiner dem ewigen Konkurrenten Mailand überlegen fühlen.

«In Mailand sind die Strassen und Gassen mittelalterlichen Ursprungs und ein einziges Gewirr», ätzt Barbero.

Ein Hauch von Paris

Auch die Portici erinnern an den französischen Einfluss in Turin. Die eleganten Arkaden sind ein Symbol der Stadt. Sie sind zum Grossteil durchgehend miteinander verbunden und erstrecken sich über 18 Kilometer.

Unter den eleganten Bogengängen finden sich Boutiquen, alteingesessene Geschäfte und historische Cafés, wo die Turiner auch bei schlechtem Wetter ihren Aperitif im Freien geniessen können.

Ein Hauch von Paris weht durch die typischen überdachten Einkaufspassagen, allen voran die elegante Galleria Subalpina zwischen der Piazza Castello und der Piazza Carlo Alberto.

Galerie Passage Pflanzen Café Restaurant weiss Licht
Die Galleria Subalpina ist eine der typischen überdachten Einkaufspassagen Turins. - Ute Müller/dpa-tmn

Dort befindet sich auch der schöne Barockpalast Palazzo Carignano, in dem einst das erste italienische Parlament tagte und dessen Architekt sich an der Fassade des Pariser Louvre inspirierte.

Erinnerung an den Eiffelturm

Ein Fixpunkt in Turin ist die Mole Antonelliana, die ursprünglich als Synagoge erbaut, aber nie als solche benutzt wurde. 167 Meter ist der Turm hoch.

Mit einem freischwebenden gläsernen Aufzug kommt man auf die Plattform in 85 Metern Höhe. Der Rundumblick auf Turin und die malerische Bergkulisse ist spektakulär.

«Mit etwas Fantasie erkennt man in diesem Turm trotz seines etwas zu kräftig geratenen Rumpfes eine Ähnlichkeit mit dem Eiffelturm», sagt Nicole, eine Architekturstudentin aus der Schweiz, die mit einer Gruppe Kommilitonen an der Aussichtsplattform steht.

Altstadt Turin rot Berge Panoramaansicht
Von der Plattform der Mole Antonelliana hat man die ganze Stadt im Blick. - Ute Müller/dpa-tmn

In der Tat wurden beide Metallkonstruktionen zur gleichen Zeit erbaut und 1889 eingeweiht. Es war die Zeit, in die Entwicklung Turins zu einer modernen Industriestadt ihren Anfang nahm.

Ganz Turin tickte nach der Uhr von Fiat

Zehn Jahre nach Einweihung der Mole Antonelliana wurde hier Fiat gegründet – und Turin zum Zentrum der Automobilindustrie in Italien.

«Ganz Turin tickte nach der Uhr von Fiat, das Leben ging früh los und endete bald nach der letzten Schicht, kurz danach schlossen auch die Geschäfte, an spätes Ausgehen war damals nicht zu denken», erinnert sich Historiker Barbero.

Es war die Zeit, in der viele Süditaliener auf der Suche nach Arbeit in die Stadt kamen. Sie fanden in den heute kaum noch erschwinglichen Palazzos Unterkunft und prägten so eine Stadt, die inzwischen viele Zuwanderer aus aller Welt aufnimmt.

Und nicht zuletzt setzten die 1924 erbauten modernistischen Fiat-Werkhallen von Lingotto auch architektonisch neue Massstäbe.

Sie wurden im Jahr 1982 geschlossen, heute produziert Fiat etwas südlich von Lingotto in seinem Werk im Stadtteil Mirafiori Sud.

Kunstmuseum auf Dach der Fiat-Fabrik

Das alte Werk in Lingotto verwandelte Stararchitekt Renzo Piano in ein Kultur- und Einkaufszentrum.

Fabrikgebäue Haltestelle Fiat
Früher wurden im Fiat-Werk von Lingotto Autos gebaut, heute ist es ein Kultur- und Einkaufszentrum. - Ute Müller/dpa-tmn

Die legendäre Teststrecke mit ihren Steilkurven auf dem Dach blieb erhalten, sie führt heute um die Pinakothek der Fiat-Familie Agnelli.

Die wertvollsten Stücke dieses Kunstmuseums hängen in einem Kubus, einem riesigen Stahlcontainer, den Piano einst als «Schmuckkästchen» bezeichnete.

Viele Turiner halten freilich ihre Stadt für ein Gesamtkunstwerk und bezeichnen sie gerne als «Piccola Parigi», als «kleines Paris».

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