Der vergessene Krieg: Was genau passiert derzeit im Osten von Kongo?
Der Ostkongo erlebt den tödlichsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg – mit sechs Millionen Opfern und kaum Beachtung im Westen.

Das Wichtigste in Kürze
- Über 100 Rebellengruppen kämpfen um Macht und Rohstoffe.
- Ruanda und Uganda profitieren vom illegalen Rohstoffhandel.
- Der Westen reagiert zurückhaltend – der Krieg bleibt weitgehend unbeachtet.
Der tödlichste Konflikt seit dem 2. Weltkrieg. Sechs Millionen Tote in 30 Jahren.
Diese Zahlen und Schlagzeilen betreffen nicht die Ukraine oder den Nahen Osten. Sondern einen Krieg, der in der westlichen Welt kaum Beachtung findet: den Konflikt im Ostkongo und der daraus folgenden humanitären Katastrophe.
Viele Fragezeichen beim Thema Kongo
Was genau passiert im Kongo? Welche Truppen kämpfen gegeneinander? Und weshalb ist dieser Konflikt in Europa kaum je ein Thema?
Nau.ch hat sich zu diesen Fragen mit Jakob Kerstan ausgetauscht.
Kerstan arbeitet und lebt in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Als Leiter des Auslandsbüros DR Kongo der Konrad-Adenauer-Stiftung kennt er die aktuelle Situation im zweitgrössten Land Afrikas genau.
Über 100 verschiedene Rebellengruppen
Vorneweg: Der Konflikt ist unheimlich komplex. «Es gibt im Kongo über 100 verschiedene Rebellengruppen», erklärt Kerstan.
Die aktuelle Eskalation ist auf die Miliz M23 zurückzuführen, die sich im Krieg mit der Regierungsarmee des Kongo befindet. M23 hat Ende Januar Teile der Millionenstadt Goma unter Kontrolle gebracht – es starben Tausende Soldaten und Zivilisten.
Um die genauen Hintergründe dieses Konflikts zu verstehen, muss man in den Geschichtsbüchern zurückblättern.

Die M23 besteht überwiegend aus Tutsi-Kämpfern. Die M23 und Ruanda werfen der kongolesischen Regierung vor, die Tutsi zu verfolgen. Ruandas Präsident Paul Kagame, ebenfalls ein Tutsi, beendete 1994 den Völkermord an den Tutsi in Ruanda.
Viele Hutu flohen damals in den Kongo, darunter Täter, die die Miliz FDLR gründeten. Diese will Ruanda zurückerobern und arbeitet phasenweise mit Teilen der kongolesischen Armee zusammen.
Die Rohstoffe als Kriegstreiber
Der aktuelle Krieg begann, als der Kongo Uganda erlaubte, die islamistische ADF-Miliz zu bekämpfen und wirtschaftlich zu profitieren. Ruanda fühlte sich ausgeschlossen und reaktivierte die M23. Diese wiederum bekämpft nun die FDLR und Regierungstruppen.
Religiöse Hintergründe spielen beim Konflikt kaum eine Rolle. «Es geht eher um ethnische Hintergründe. Und als Feuerholz dienen die Rohstoffe», sagt Kerstan.
Denn: Der Ostkongo ist reich an Rohstoffen wie Gold und Coltan. Die M23 kontrolliert die Minenstadt Rubaya, eine wichtige Coltan-Quelle. 2019 lieferte der Kongo 40 Prozent des weltweiten Coltans, das in Smartphones und Computern steckt.
Viele Rohstoffe werden illegal abgebaut und über Ruanda und Uganda geschmuggelt. 2023 überholte Ruanda den Kongo als grösster Coltan-Exporteur, obwohl es selbst kaum Vorkommen hat.
Grundsätzlich geht es beim blutigen Konflikt im Ostkongo also um viel Geld. Und um Macht. Kerstan: «Die Regierung im Kongo ist nicht in der Lage, Sicherheit und Stabilität zu garantieren.»
Die M23 will weiter an Macht gewinnen
Die M23 sehe sich daher als bessere Alternative. Eine Forderung der Rebellengruppe sei, dass die Tutsi Schlüsselpositionen in Kongos Staatsapparat und in der Armee erhalte. «Das wird von der Zentralregierung aber abgelehnt.»
Noch beschränkt sich der Einfluss des M23 auf den Osten. «Die Regierung in Kinshasa verkauft es so, dass alles in Butter sei, wenn die M23 dort besiegt wird», sagt Kerstan. «Das stimmt natürlich nicht, es gäbe dann immer noch über 100 andere Gruppen.»
Zudem ist gut möglich, dass sich der M23-Einflussbereich in Zukunft eher vergrössern wird. Auch wegen des Zusammenschlusses der «Alliance Fleuve Congo».
Dieses Bündnis politischer und militärischer Gruppen will die Regierung in Kinshasa stürzen. Die M23 ist das wichtigste Mitglied dieser Gruppierung.
Bleibt die Frage: Würde dies der Westen überhaupt registrieren? Denn trotz Millionen von Opfern und Flüchtlingen ist der Konflikt in Europa oder den USA kaum ein öffentliches Thema.
«Das liegt daran, dass der Konflikt extrem kompliziert ist», erklärt Kerstan. Für westliche Staaten sei es schwierig, eine klare Position zu beziehen.
Die Zurückhaltung der westlichen Staaten
Ruanda verletze die territoriale Integrität des Kongo. «Trotzdem sind die Statements der westlichen Staaten relativ schwach.» Was wiederum daran liegt, dass ein Teil der Verantwortung am Krieg auch die kongolesische Regierung trägt.
Kommt dazu: «Es gibt über sieben Millionen Binnenflüchtlinge im Kongo. Von denen kann sich keiner leisten, nach Europa zu kommen», sagt Kerstan. Daher sei der Krieg für viele Europäer weit weg und kaum fassbar.
Und trotzdem: «Schon aus humanitären Gründen müssten wir viel genauer hinsehen», sagt Kerstan.
Die grosse Mehrheit der eingangs erwähnten sechs Millionen Kriegsopfer sind nämlich Zivilisten. Krankheiten wie Cholera und Typhus breiten sich in den Flüchtlingslagern aus. Und ein Ende des Krieges im Ostkongo ist derzeit kaum absehbar.