Hongkongs Regierung zieht Auslieferungsgesetz zurück
Das Wichtigste in Kürze
- Nach monatelangen Protesten will Hongkongs Regierung das heftig umstrittene Gesetz für Auslieferungen nach China komplett zurückziehen.
In einer Videoansprache gestand Regierungschefin Carrie Lam am Mittwoch ferner ein, dass die Unzufriedenheit unter den sieben Millionen Hongkongern «weit über dieses Gesetz hinausgeht».
Sie kündigte einen Dialog über die «tiefsitzenden Probleme» an. Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung von Polizeigewalt kam Lam aber nicht nach. Vielmehr verwies sie auf das bestehende Gremium (IPCC), das mit ausländischen Polizei-Experten verstärkt wird.
Mit dem Rückzug des Gesetzentwurfs erfüllt Lam eine Hauptforderung der Demonstranten und zeigt Entgegenkommen. Doch hiess es in vielen Reaktionen «zu wenig, zu spät», wie auch der Anführer der Protestbewegung, Joshua Wong, meinte. Die Proteste müssten mindestens bis zum 1. Oktober weitergehen, wenn China den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik feiere, sagte Wong bei einem Besuch in Taiwan. Mit der Erfahrung der Polizeibrutalität und der Einschränkung ihrer Menschenrechte seien die Hongkonger jetzt umso entschlossener, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
Der wegen des massiven Widerstands bereits auf Eis liegende Gesetzentwurf war vor vier Monaten der Auslöser für die Proteste. Das Gesetz hätte Auslieferungen von verdächtigten Personen nach China erlaubt, obwohl dessen Justizsystem nicht unabhängig ist und häufig als Werkzeug politischer Verfolgung benutzt wird. Auch warnen Kritiker vor Folter. Mitte Juni legte Lam den Entwurf auf Eis, erklärte ihn später für «gestorben», zog ihn aber nicht zurück.
In ersten Reaktionen äusserten Aktivisten ihre Erleichterung, machten aber deutlich, dass ihnen die Kehrtwende nicht weit genug geht. Ausser dem Rückzug des Gesetzes und der Untersuchung von Polizeigewalt fordern die Demonstranten den Rücktritt der Regierungschefin, eine Freilassung von Festgenommenen, eine Amnestie und Rücknahme des Vorwurfs des «Aufruhrs». Viele Demonstranten fordern darüberhinaus noch politische Reformen und wirklich freie Wahlen.
«Wenn sie die Sprechchöre der Leute in den Märschen hören, dann sind es die fünf Forderungen und nichts weniger», sagte Bonnie Leung von der Civil Human Rights Front, die grosse Demonstrationen organisiert hatte. Vielen werde es nicht reichen, wenn es keine Untersuchung der Polizeigewalt gebe. «Ohne eine unabhängige Untersuchung kann unsere Gesellschaft einfach nicht voranschreiten, weil wir jetzt sehen, dass die Polizei jeden Tag wahllos Leute verprügelt», sagte Leung.
Die Krise in Hongkong überschattet den Besuch von Kanzlerin Angela Merkel am Freitag und Samstag in China. In einem offenen Brief der Protestführer, der der «Bild»-Zeitung vorliegt, warnt Aktivist Wong vor einer Eskalation. «Uns steht eine diktatorische Macht gegenüber, die keine freiheitlichen Grundrechte zulässt und immer mehr gewalttätige Massnahmen anwendet, mit Tendenz zu einem neuen Massaker wie am Tian'anmen-Platz.» 1989 schlugen Soldaten am Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Demokratiebewegung blutig nieder.
In dem Brief erinnern die Protestführer an Merkels DDR-Vergangenheit. Da sie aus erster Hand Erfahrungen mit diktatorischen Regimen habe, könne sie sich gut in die Situation der Protestler hineinversetzen. Merkel solle deshalb bei ihren Gesprächen am Freitag mit Chinas Regierungschef Li Keqiang die Lage in Hongkong ansprechen.
Die Proteste haben Hongkong in seine bislang schwerste Krise gestürzt. Zuletzt wurde 13 Wochenenden in Folge demonstriert - zum Teil mit Hunderttausenden bis zu weit mehr als einer Million Teilnehmern. Die Proteste endeten häufig in Zusammenstössen zwischen radikalen Demonstranten und der Polizei. Die Hongkonger befürchten steigenden Einfluss der chinesischen Regierung auf Hongkong und eine Beschneidung ihrer Freiheitsrechte.
Auch in Deutschland werden Rufe lauter, dass Merkel mässigend auf Peking einwirken soll. Oppositionspolitiker forderten, dass die Kanzlerin in Peking klar machen müsse, dass ein Einsatz von Gewalt nicht akzeptabel sei. Auch wurde die Wirtschaftskooperation zwischen Deutschland und China in Frage gestellt, sollte Peking einen harten Kurs wählen. Unionspolitiker zeigten sich überzeugt, dass Merkel die Freiheit Hongkongs in einer Art ansprechen werde, «die den Chinesen eine gesichtswahrende, friedliche Reaktion ermöglicht».
Die frühere britische Kronkolonie wird seit der Rückgabe 1997 an China in ihrem eigenen Territorium mit einem eigenen Grundgesetz nach dem Prinzip «ein Land, zwei Systeme» autonom regiert. Die Hongkonger stehen unter Chinas Souveränität, geniessen aber - anders als die Menschen in der kommunistischen Volksrepublik - mehr Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Viele fordern auch freie Wahlen, wie es ihnen einst in Aussicht gestellt worden war.
In ihrer Videoansprache kündigte Regierungschefin Lam an, das der Gesetzentwurf zurückgezogen werde, sobald der Legislativrat wieder zusammenkomme. Es gehe bei den Protesten aber nicht allein um das Gesetz, sondern auch um «politische, wirtschaftliche und soziale Probleme». Die Unzufriedenheit betreffe auch die Wohnungslage, die Einkommensverteilung, soziale Gerechtigkeit, Aufstiegsmöglichkeiten für junge Leute und die Beteiligung der Öffentlichkeit an den Entscheidungen der Regierung. Hier müssten Lösungen gefunden werden.
Scharfe Kritik äusserte Lam an der Gewalt, den Angriffen auf das Verbindungsbüro von Chinas Regierung in Hongkong und der Beschädigung der chinesischen Nationalflagge und Embleme. «Das ist eine direkte Herausforderung von «ein Land, zwei Systeme».» Bei aller Unzufriedenheit könne sie nicht akzeptieren, «dass Gewalt die Lösung unserer Probleme ist». Sie schloss mit den Worten: «Lasst uns Konflikt mit Gespräch ersetzen, und lassen sie uns nach Lösungen suchen.»
Demonstranten reagierten skeptisch auf ihre Ankündigungen. Eine Studentin mit dem Namen Vicky, die als Erste-Hilfe-Freiwillige bei den Protesten half, sagte: «Wenn Carrie Lam im Juni oder selbst Anfang Juli den Entwurf zurückgezogen hätte, wäre die Bewegung schliesslich abgeflacht.» Aber nach allem, was in den letzten drei Monaten passiert sei, würden die Demonstrationen weitergehen. «Es ist einfach unmöglich, ohne eine angemessene Untersuchung der Polizeikräfte oder die Freilassung der Demonstranten voranzugehen.»