Japan wird zum Land der Singles
Ist Japan ein Land der Sexmuffel? Angesichts niedriger Geburtenraten altert Japan so schnell wie kein anderes Industrieland. Immer mehr junge Menschen sind Singles. Dabei würden viele gerne heiraten - wenn sie könnten.
Das Wichtigste in Kürze
- Mariko sorgt sich um das Sexleben ihrer Freundin.
«Sie möchte ein Baby, aber sie und ihr Mann haben nie Geschlechtsverkehr», erzählt die 44-jährige Japanerin.
«Ihr Mann liebt Videospiele und Essen, Sex aber interessiert ihn nicht», schildert sie die Klagen ihrer Freundin Yoko. Auch Mariko selbst hat keinen Sexpartner, obgleich sie sich schon seit langem einen Ehemann und ein Kind wünscht. Die beiden Frauen sind in ihrer japanischen Heimat, die angesichts niedriger Geburtenraten so rasant altert wie keine andere Industrienation der Welt, keine Einzelfälle. Romantische Beziehungen sind in der vor Deutschland drittgrössten Volkswirtschaft der Welt auf dem Rückzug - zugleich nimmt die Zahl der Singles in Japan zu.
«Rund 25 Prozent der heutigen Jugend in Japan wird voraussichtlich ihr Leben lang alleinstehend und unverheiratet bleiben», erklärt Professor Masahiro Yamada von der Chuo Universität, der einst den Begriff von den «Parasite Singles» prägte - erwachsene Japaner, die unverheiratet bleiben und frei zur Miete bei ihren Eltern leben. Der Anteil der Singles an der japanischen Gesamtbevölkerung ist in den vergangenen drei Jahrzehnten dramatisch gestiegen. Als Folge hängt Japan der zweifelhafte Ruf an, eine Nation lauter Sexmuffel zu sein.
Im Jahr 2015 waren einer neuen Studie der University of Tokyo zufolge bereits jede vierte Frau und jeder dritte Mann in ihren späten 30ern alleinstehend. Die Hälfte von ihnen hat Umfragen zufolge kein Interesse an heterosexuellen Beziehungen. Japans Medien machen zunehmende Jungfräulichkeit und ein vermeintlich sinkendes Interesse unter jungen Menschen an Sex und Dates aus. Es gebe immer mehr «Pflanzenfresser». So werden in Japan gewöhnlich Männer bezeichnet, die körperlich wie vom Wesen her zartbesaitet schüchtern und sanft sind und kein aktives Verlangen nach romantischen Beziehungen oder Sex an den Tag legen. Das Gegenteil davon sind die «Fleischfresser».
Ist also ein vermeintlicher Libidoverlust der Japaner Schuld an der niedrigen Geburtenrate? Wissenschaftlern zufolge ist das Problem vielschichtiger. «Japan ist stark besessen vom traditionellen Familienbild», erklärt Yamada, Autor des Buches «Warum werden junge Leute konservativ?». Viele junge Japanerinnen und Japaner strebten nach der traditionellen Rollenverteilung, bei der der Mann das Geld verdient und sich die Frau um Haus und Kinder kümmert. Während der Boomjahre bis Anfang der 90er war es für junge Japanerinnen leichter, einen gut verdienenden Mann zu finden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Angesichts Japans heute schwieriger wirtschaftlicher Lage ist ein solches Leben immer seltener möglich.
Dennoch werde am traditionellen Ideal vom Mann als alleinigem Brotverdiener festgehalten, so Yamada. Als Folge lebten viele junge Japanerinnen weiter bei den Eltern und warteten auf den Traumpartner. «Doch für eine grosse Zahl von ihnen wird dieser ideale Partner nie auftauchen», so Yamada. Die Folge: Viele blieben ledig. Im Jahr 2015 zählte Japan laut Forschern der University of Tokyo bereits 2,2 Millionen mehr alleinstehende Frauen und 1,7 Millionen mehr männliche Singles im Alter zwischen 18 und 39 Jahren als noch im Jahr 1992.
«Nach dem 30. Lebensjahr ist man entweder verheiratet oder ledig. Sehr wenige Menschen in den älteren Altersgruppen sind unverheiratet und in einer Beziehung», schreibt Peter Ueda, Experte für Epidemiologie an der University of Tokyo, im Wissenschaftsjournal «PLOS ONE». Es läge daher die Vermutung nahe, dass die Betonung der Ehe als die gesellschaftlich akzeptabelste Form der Beziehung zwischen Erwachsenen ein «Hindernis für die Bildung romantischer Beziehungen in Japan darstellt», berichtet der Wissenschaftler weiter.
Ihre sexuellen Bedürfnisse, sagt Buchautor Yamada, würden junge Japaner und Japanerinnen stattdessen zunehmend bei Besuchen in Hostess- beziehungsweise Host-Clubs sowie sogenannten «Maid-Cafes» befriedigen, wo als Dienstmädchen verkleidete Japanerinnen Männer bedienen, die nicht selten auf Sex aus sind. Andere bevorzugten virtuelle Intimität zum Beispiel mit Figuren aus Zeichentrickfilmen oder schwärmten für «Idols», Personen aus der Pop-Kultur, die vor allem wegen ihres Äusseren beliebt sind. Laut Medien gibt es zudem eine wachsende Nachfrage unter Japanerinnen nach Sex-Spielzeug zur Selbstbefriedigung und nach Pornos für Frauen.
Andere dagegen machen sich nichts aus intimen Beziehungen. Ohnehin sei die Frage nach dem Lebensunterhalt oft wichtiger als nach Liebe, erklärt Yamada. Das sei im Westen anders. Wie er sehen auch die Forscher um Ueda einen Zusammenhang zwischen persönlicher finanzieller Lage und dem Beziehungsstatus. Eine neue Analyse von Daten des Japanese National Institute of Population and Social Security Research aus den Jahren 1987 bis 2015 lege den Schluss nahe, dass bei Männern ein geringeres Einkommen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse Nachteile auf dem japanischen Dating-Markt darstellen, schreibt Ueda weiter.
«Wenn die Regierungspolitik direkt auf die Situation von Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen und niedriger Bildung einginge, hätten einige Menschen mit mangelnder Arbeitsplatzsicherheit oder finanziellen Ressourcen möglicherweise ein neues Interesse an Dates», erklärt Haruka Sakamoto, Expertin für öffentliche Gesundheit und Mitautorin der «PLOS ONE»-Studie.
In der Erhebung von 2015 erklärte mehr als die Hälfte der Singles, die kein Interesse an Beziehungen hatten, dass sie gleichwohl weiter hofften, irgendwann zu heiraten. Auch Mariko hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, irgendwann einen Partner fürs Leben zu finden.