Taliban-Fahne gehisst: Masar-i-Scharif von Islamisten eingenommen
Die Taliban stehen in Afghanistan vor der Hauptstadt Kabu. Die wichtige Provinzhauptstadt Masar-i-Scharif wurde von den Islamisten kampflos eingenommen.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Taliban sind in Nordafghanistan weiter auf dem Vormarsch.
- Laut den örtlichen Behörden nahmen sie Masar-i-Scharif kampflos ein.
- Die Stadt war bis vor kurzem der Hauptstützpunkt der deutschen Bundeswehr in Afghanistan.
Der Eroberungszug der Taliban in Afghanistan geht ungebremst weiter: Am Samstag haben die militant-islamistischen Aufständischen auch die Grossstadt Masar-i-Scharif im Norden eingenommen, wie mehrere Provinzräte der Deutschen Presse-Agentur bestätigten.
Dort war bis vor wenigen Wochen ein grosses Feldlager der Bundeswehr, Ende Juni erst sind die deutschen Soldaten abgezogen. Nach dem Fall von Masar-i-Scharif kontrolliert die Regierung lediglich noch zwei Grossstädte - Dschalalabad im Osten und die Hauptstadt Kabul. Es ist unklar, wie lange sich Präsident Aschraf Ghani angesichts der Lage noch halten kann.
Die Islamisten hatten seit rund einer Woche Masar-i-Scharif immer wieder an den Aussengrenzen der Stadt angegriffen. Sie versuchten, von mehreren Seiten in die auch wirtschaftlich wichtige Metropole mit geschätzt 500'000 Einwohnern einzudringen. Milizen des Ex-Gouverneurs Mohammad Atta Nur und des Ex-Kriegsfürsten Abdul Raschid Dostum hatten zuletzt nördlich der Stadt eine zusätzliche Verteidigungslinie zur Unterstützung der Sicherheitskräfte aufgebaut.
Bis zu 1000 deutsche Soldaten bis Ende Juni stationiert
In Masar-i-Scharif hatte die deutsche Bundeswehr bis vor kurzem ein grosses Feldlager im Camp Marmal in der Nähe des Flughafens. Dort waren bis zum Sommer noch rund 1000 deutsche Soldaten stationiert. Ende Juni waren nach der US- und Nato-Abzugsentscheidung in vier Militärmaschinen die letzten verbliebenen Soldaten nachts ausgeflogen worden. Die Bundeswehr hatte zuletzt afghanische Sicherheitskräfte im Zuge der Nato-Mission «Resolute Support» ausgebildet.
Noch am Samstagmorgen (Ortszeit) hiess es von Provinzräten, ein weiterer Taliban-Angriff auf Masar-i-Scharif sei zurückgeschlagen worden. Am Abend hiess es aus Sicherheitskreisen, die Islamisten seien gegen 21 Uhr (Ortszeit) in die Stadt eingedrungen. Daraufhin hätten sie Gefangene aus dem Zentralgefängnis der Stadt freigelassen.
Nur rund zwei Stunden später erklärte der Provinzrat Sabiullah Kakar sagte, die Stadt sei vollständig unter Kontrolle der Islamisten. Auch das 209. Armeekorps am Rande der Stadt sei gefallen, durch einen «Deal» mit den Islamisten. Alle Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre, sagte Kakar weiter, seien zunichte. Aus Sicherheitskreisen hiess weiter, ein grosser Teil der Sicherheitskräfte habe sich in den Bezirk Tschahar Kent und in das Camp Marmal in der Nähe des Flughafens zurückgezogen. In sozialen Medien wurden Bilder von Taliban geteilt, die bei der berühmten Blauen Moschee ihre Fahne anbrachten.
Masar-i-Scharif fiel praktisch ohne Gegenwehr
Zwei Quellen in Masar-i-Scharif sagten, die Stadt sei praktisch ohne Gegenwehr gefallen. Mohammad Atta Nur schrieb kurz vor Mitternacht auf Facebook, es seien in einer «gross angelegten, organisierten und feigen Verschwörung» alle Regierungseinrichtungen und Regierungskräfte an die Taliban übergeben worden. Nähere Details wolle er zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen. Der Gouverneur, Dostum und andere Regierungsvertreter seien an einem sicheren Ort.
In Masar-i-Scharif könnten sich weitere Ortskräfte der Bundeswehr befinden. An ihnen werden Racheaktionen der Taliban befürchtet. Viele waren angesichts der steigenden Gefahr in den vergangenen Wochen bereits nach Kabul übergesiedelt. Eine ehemalige Bundeswehr-Ortskraft in Kabul sagte, seine Familie weine vor Angst, seit sie die Nachricht des Falls der Stadt erreicht habe. Sie gingen davon aus, dass Kabul auch bald eingenommen werde.
Die Bundesregierung bereitet angesichts des schnellen Vorrückens der Taliban unter Hochdruck eine militärisch abgesicherte Evakuierungsaktion vor. Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sollen so schnell wie möglich ausser Landes gebracht werden. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte: «Es hat jetzt absolute Priorität, dass wir die zu Schützenden sicher nach Deutschland bringen.»
Taliban kontrollieren 22 der 34 Provinzhauptstädte
Seit Beginn des Abzugs der US- und Natotruppen im Mai haben die Taliban gewaltige Gebietsgewinne verzeichnen können. Mittlerweile kontrollieren sie 22 der 34 Provinzhauptstädte. Kurz vor dem Fall von Masar-i-Scharif bestätigten lokale Behördenvertreter auch den Fall der Provinzhauptstadt Gardis in Paktia im Südosten des Landes.
Am Samstag waren bereits zwei weitere kleine Provinzhauptstädte im Osten - Asadabad in Kunar und Scharana in Paktika im Südosten - kampflos an die Taliban gegangen. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanistan Analyst Networks sagte, es sei «sehr sehr unwahrscheinlich», dass sich die Entwicklung noch drehen könne.
Diese Woche fielen mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrösste Stadt des Landes an die Islamisten. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani sagte in einer kurzen TV-Ansprache am Samstag, er sei sich der schlimmen Lage bewusst, in der sich das Land befinde. Nun stelle sich die «historische Aufgabe», den Tod weiterer Unschuldiger zu verhindern und die Errungenschaften für die Zivilgesellschaft der vergangenen 20 Jahre zu verteidigen.
Dabei ging er nicht auf Spekulationen ein, er könne zurücktreten, um den Weg für eine mögliche politische Einigung mit den Islamisten frei zu machen. Er halte mit politischen Führern und internationalen Partnern Konsultationen ab und wolle «bald» Ergebnisse vorstellen.
Zusätzlich ernannte er Sami Sadat, den jungen, ehemaligen Kommandeur des 215. Armeekorps zuständig für den Süden Afghanistans - der mittlerweile praktisch vollständig Taliban-Gebiet ist - zum neuen Sicherheitsbeauftragten für die Stadt Kabul. Erst vor vier Tagen war Sadat zum Kommandeur der Spezialkräfte ernannt worden.
Der Präsidentenpalast teilte nach einem weiteren Treffen Ghanis mit politischen Führern mit, man habe sich darauf geeinigt, ein «autoritatives» Verhandlungsteam zur Vertretung der Republik in den Friedensgesprächen mit den Taliban aufzustellen. Diese laufen seit September, allerdings ohne nennenswerte Fortschritte. Beobachter sagten zuletzt wiederholt, der Prozess in Doha sei tot.