Kiew verschärft unter Druck Gesetz zur Mobilmachung
Die Ukraine hat am Donnerstag ein umstrittenes Gesetz zur verstärkten Mobilmachung verabschiedet.
Überschattet von schweren russischen Angriffen auf die eigene Infrastruktur und vielen Rückschlägen an der Front hat die Ukraine am Donnerstag ein umstrittenes Gesetz zur verstärkten Mobilmachung verabschiedet. Für die Novelle stimmten Medienberichten zufolge 283 Abgeordnete. Notwendig waren 226 Stimmen.
Hauptsächlich verschärft das Gesetz die Regeln zur Erfassung von Wehrfähigen. Mit Inkrafttreten sind alle Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren verpflichtet, während des geltenden Kriegsrechts ihren Wehrpass bei sich zu führen. Innerhalb von zwei Monaten müssen die Männer auch ihre persönlichen Daten auf den aktuellen Stand bringen, ansonsten drohen Strafen.
Reservistenalter auf 25 Jahre abgesenkt
Neue Reisedokumente werden im Ausland nur ausgestellt, wenn die Wehrpapiere vorliegen. Diese sind aber nur bei einer Rückkehr in die Ukraine erhältlich. Wer Einberufungen und Musterungsbescheide ignoriert, dem droht neben Geldstrafe künftig auch der Entzug der Fahrerlaubnis.
Im Kampf gegen die seit über zwei Jahren andauernde russische Invasion haben die ukrainischen Streitkräfte immer grössere Probleme, ihre Verluste mit neuen Soldaten auszugleichen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte dafür kürzlich das Reservistenalter auf 25 Jahre abgesenkt. Damit können Männer zwischen 25 und 60 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen werden. Frauen können sich in der Ukraine freiwillig zum Wehrdienst melden.
46'000 Verfahren wegen Desertion
Nicht im Gesetzestext enthalten ist dabei das Recht für Soldaten, nach drei Jahren ihren Dienst zu quittieren. Im Vorfeld hiess es, dass dazu ein gesondertes Gesetz verabschiedet werden soll. Regelmässig protestieren Angehörige von Soldaten in Kiew und anderen Orten, die eine Entlassung ihrer Verwandten aus dem Militärdienst nach über zwei Jahren Krieg fordern.
Angesichts der hohen Verluste versuchen viele Ukrainer, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Zehntausende sind seit Kriegsbeginn mit gefälschten Dokumenten über die grüne Grenze ins Ausland geflüchtet. Im Land selbst sind allein in den Gebieten Poltawa, Iwano-Frankiwsk und Tscherniwzi mehr als 70'000 Personen zur Fahndung ausgeschrieben.
Bei der Staatsanwaltschaft sind seit Kriegsbeginn mit stark steigender Tendenz über 46'000 Verfahren wegen Desertion und unerlaubtem Entfernen von der Truppe eingeleitet worden. Mehr als ein Viertel davon entfällt auf das erste Quartal 2024.
Moskaus Truppen rücken auf Stadt Tschassiw Jar vor
Unterdessen ist der Druck des russischen Militärs an der Front weiterhin hoch. Nach der Erstürmung der zur Festung ausgebauten Stadt Awdijiwka drücken sie dort die Verteidiger dort weiter gen Westen. Nahe Bachmut rücken Moskaus Truppen derweil auf die Stadt Tschassiw Jar vor.
Und auch die Attacken aus der Luft machen der Ukraine zunehmend zu schaffen. Bei schweren Raketenangriffen in der Nacht wurden erneut mehrere Objekte der Energieversorgung getroffen. Betroffen seien Anlagen zur Stromerzeugung und -verteilung in den Gebieten Charkiw, Saporischschja, Lwiw und Kiew, teilte Energieminister Herman Haluschtschenko auf Facebook mit. Auch im Gebiet Odessa gab es Schäden.
Mehr als ein Dutzend Kraftwerke zerstört seit Mitte März
Der grösste Stromproduzent des Landes, DTEK, teilte auf Telegram mit, zwei seiner Wärmekraftwerke seien beschädigt worden. Südlich der Hauptstadt Kiew wurde das Wärmekraftwerk von Trypilje zerstört, wie der staatliche Betreiber Zentrenerho mitteilte. Von den Angestellten des Werks sei niemand verletzt worden. Ein Brand habe das Turbinenhaus erfasst, die Löscharbeiten dauerten an.
Das Werk könne keinen Strom generieren. Seit Mitte März sind mehr als ein Dutzend Kraftwerke zerstört oder lahmgelegt worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj bat bei seinem Besuch in Litauen daher einmal mehr den Westen um verstärkte Unterstützung bei der Flugabwehr.