Ukraine-Krieg: «Liebe mein Land, aber ich kann nicht töten»
Einberufungsoffiziere suchen im Ukraine-Krieg nach Männern, die sich dem Wehrdienst entziehen wollen. Viele Betroffene verstecken sich zu Hause – oder flüchten.
Das Wichtigste in Kürze
- «Ich liebe mein Land, aber ich kann nicht töten», sagt ein wehrdienstpflichtiger Ukrainer.
- So wie ihm geht es einigen Männern in der angegriffenen Ukraine.
- Sie ziehen um, verstecken sich oder flüchten. Und hoffen, nicht gefunden zu werden.
Der ukrainischen Armee fehlt es im dritten Jahr des Ukraine-Kriegs an Soldaten. Deshalb hat Präsident Wolodymyr Selenskyj im April zugestimmt, dass Reservisten bereits ab einem Alter von 25 Jahren eingezogen werden können. Bislang waren es 27 Jahre.
Auch die Strafen für Wehrdienstverweigerer wurden verschärft: Ab dem 18. Mai können wehrdienstpflichtige Männer, die nicht in den Ukraine-Krieg ziehen, ihren Führerausweis verlieren. Zudem können ihre Bankkonten eingefroren und ihr Eigentum beschlagnahmt werden.
In den ukrainischen Städten sind Einberufungsoffiziere unterwegs, welche die Männer im wehrdienstpflichtigen Alter aufspüren sollen. In Telegram-Chats warnen sich Betroffene gegenseitig vor den patrouillierenden Offizieren.
«Will nicht sterben»
In genau so eine Kontrolle ist vor zehn Tagen Anton* aus Charkiw geraten, wie der «Guardian» berichtet. Der 32-Jährige, der im Rahmen seiner Freiwilligenarbeit humanitäre Hilfsgüter an die Front fährt, muss daraufhin im Rekrutierungszentrum antraben. Denn die Offiziere finden seinen Namen auf einer Liste, mit dem Vermerk «ukhyliant» – Wehrdienstverweigerer.
Im Zentrum erklärte Anton, er leiste nützliche NGO-Arbeit – sein Interviewer wollte davon aber nichts wissen. Er meinte, Anton müsse sich innert drei Tagen bei der medizinischen Kommission melden. Dort werde festgestellt, ob er wehrdiensttauglich ist. Sonst drohe ihm eine Geldstrafe.
Wenn er nicht in den Ukraine-Krieg ziehen wolle, könne er über den Fluss Tisa nach Rumänien schwimmen, so der Offizier. «Es war ein Witz, aber gleichzeitig auch kein Witz», sagt Antons Kollege Serhii gegenüber der Zeitung.
Anton tauchte daraufhin ab. Er zog aufs Land und arbeitet jetzt aus der Ferne.
Auch der 31-jährige Serhii erklärt: «Ich liebe mein Land. Aber ich kann niemanden töten und will nicht sterben.»
Viele verstecken sich vor Ukraine-Krieg
Damit ist er nicht alleine. IT-Manager Oleksandr ist extra in ein wohlhabendes Quartier in Kiew gezogen, um den Einberufungsoffizieren zu entgehen. Denn diese treiben sich eher in den ärmeren Distrikten herum, so der 36-Jährige. Manche seiner Nachbarn im Block waren Parlamentsmitglieder.
Seine Ehefrau Nastia sagt: «Das Militär kommt nicht hierher. Unser Quartier ist eine Insel des Überlebens. In der Ukraine arm zu sein, bedeutet, tot zu sein.» Sie macht sich Sorgen um ihren Mann und hat deswegen auch Panikattacken.
«Du hast nur ein Leben», meint Oleksandr. «Wenn es eine Wahl zwischen Leben und Flagge ist, entscheide ich mich für das Leben.»
Die 34-jährige Olha erklärt, ihr Mann wolle wegen der zwei kleinen Kinder und Haushaltsschulden nicht in den Ukraine-Krieg. Der IT-Programmierer sei «24/7 zu Hause». Als er mal zum Zahnarzt musste, suchten sie nach unauffälligen Routen, um dorthin zu kommen. Eine davon führte «durch den Wald».
Ein Freund von Oleksandr und Nastia ist im Oktober 2023 zu Fuss aus der Ukraine geflüchtet. An der Grenze zu Ungarn wartete er einen günstigen Moment ab, um durch ein Loch im Zaun zu klettern. Jetzt ist er im polnischen Warschau und sagt: «Ich wollte nicht kämpfen. Ich habe Angst zu sterben.»
Andere Männer im wehrdienstpflichtigen Alter zahlen über 13'000 Franken, um sich von Schmugglern den Weg zeigen zu lassen. Rund die Hälfte der Personen, die zu fliehen versucht, wird erwischt.
* Name geändert