Ukraine-Krieg: Verdienen flüchtende Russen unser Mitleid?
Seit der Teilmobilmachung im Ukraine-Krieg flüchten mehr wehrpflichtige Russen. Im Netz wird diskutiert, ob man Mitleid haben soll. Eine Ethikerin ordnet ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Seit der Teilmobilmachung flüchten deutlich mehr Russen aus dem Land.
- Einige unterstellen diesen Flüchtenden eine «Scheinheiligkeit».
- Haben diese nun weniger Mitleid verdient als andere Flüchtende?
Seit der russischen Teilmobilmachung im Ukraine-Krieg sind 200'000 Russen ins Ausland geflüchtet, viele davon Wehrpflichtige (Stand Anfang Oktober). Im Land wird seither auch massiv mehr gegen den Ukraine-Krieg demonstriert.
Doch der Widerstand sorgt auch für Unmut. Im Netz kommen Fragen auf wie: «Jetzt, wo es um den eigenen Hintern geht, wird protestiert. Wo waren die gleichen Russen denn nach Butscha oder Isjum?»
Die plötzliche Flucht sei «scheinheilig».
Und wenn schon. Jetzt, wo es um den eigenen Hintern geht, wird demonstriert. Wo waren die gleichen Russen denn nach Butscha oder Isjum? Auf der Strasse? Fehlanzeige. So viel dazu. #russland #proteste #scheinheilig #Teilmobilmachung #egoismus #russen #butscha #UkraineKrieg https://t.co/Xl5MbWq813
— Kerr Avon (@TheMindOfOrac) September 23, 2022
Doch soll man mit Russen, die erst nach der Teilmobilmachung aktiv wurden oder flüchteten, weniger Mitleid haben? Ist hier weniger Solidarität angebracht? Die Zürcher Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle ordnet ein: «Wir wissen nicht, in welcher Lebenssituation sich diese Menschen befunden haben.» Grundsätzlich könne sie nachvollziehen, dass diese Fragen aufkommen.
Doch stelle sich die Frage: «Flüchten und protestieren diese Menschen, um ihre eigene Haut zu retten? Oder aus zivilem Ungehorsam, um ein Zeichen gegen das Regime zu setzen?»
Sollte man vom Ukraine-Krieg flüchtende Russen anders behandeln?
Hierüber zu urteilen, will sich nicht einmal die Ethikerin anmassen. Selbst, wenn es nur darum ginge, sich selbst zu retten: «Wenn ich in Russland leben würde und meine Familie nur knapp ernähren könnte: Wie würde ich reagieren, wenn ich eingezogen würde? Würde ich auf die Strasse gehen oder flüchten?» In beiden Fällen kämen die Russen damit ihrer moralischen Pflicht womöglich nach.
Weiter müsse festgehalten werden, welche legitimen Mittel zur Verfügung stünden, seine Meinung kundzutun. «Ich muss demonstrieren und Referenden ergreifen dürfen. Manche Staaten verbieten das – so auch Russland.»
In der Schweiz ist dies erlaubt – während nur wenige davon Gebrauch machen. «Wie ernst ist es also eigentlich uns in der Schweiz mit unseren Bürgerpflichten? Dürfen wir uns wirklich erlauben, über andere zu urteilen?», so Baumann-Hölzle.
Schlussendlich müsse man sich die Frage stellen: «Würden wir auf Russen, die nach der Teilmobilmachung geflüchtet sind, mit dem Finger zeigen – was wäre die Konsequenz davon? Was hiesse das für unser Zusammenleben und wie sieht es mit anderen Flüchtlingen in vergleichbaren Situationen aus?»