Wenn Kinder aus Angst nicht mehr zur Schule gehen
Der psychische Druck für Kinder und Jugendliche hat in der Corona-Zeit zugenommen. Wegen Depressionen oder auch Mobbing schaffen es manche kaum, am Unterricht teilzunehmen. Ein Besuch in einem Projekt für Schulvermeider.
Spontan die letzten beiden Schulstunden schwänzen, weil das Wetter so schön ist - das haben viele Jugendliche schon ausprobiert. Allerdings gibt es auch Kinder, denen es aus unterschiedlichen Gründen nicht gelingt, regelmässig in den Unterricht zu kommen.
Ursachen für lange Fehlzeiten können familiäre Probleme, Mobbing oder eigene psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen sein. Hat die Pandemie das Phänomen verstärkt, das Fachleute als Schulvermeidung bezeichnen? Wird es in Folge von Corona mehr Schulabbrecher und damit auch mehr junge Arbeitslose geben?Mehr Schulvermeider durch die Pandemie
«Das Phänomen Schulvermeidung hat zugenommen», sagt Thomas Thor, Leiter der Fachstelle Schulvermeidung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Region Hannover. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler erhalten nach Thors Beobachtung in der Regel zu spät Hilfe. «Die Kinder bleiben lange unter dem Radar.» Oft sind ohnehin halbe Klassen wegen positiver Corona-Tests krank, in Einzelfällen lassen Eltern ihre Kinder zu Hause, weil sie das Tragen von Masken im Unterricht und die Selbsttests ablehnen. Landesweite Zahlen dazu hat das Kultusministerium in Hannover aber nicht.
Thor glaubt, dass die weitreichenden Folgen der Pandemie erst in den kommenden Jahren deutlich werden. Die AWO bietet verschiedene Projekte für Schulvermeider an. Im Projekt Konnex werden Jugendliche individuell beraten und begleitet. Ein weiteres Projekt namens Glashütte ist ein ausserschulischer Lernort: Derzeit erhalten hier sieben 13- bis 17-Jährige vier Stunden am Tag Unterricht sowie sozialpädagogische und ergotherapeutische Unterstützung.
Unter ihnen sind Junis (13), Aida (14) und Aniela (16), die in Wirklichkeit anders heissen. Der Grund für ihre Schulangst sind nicht schlechte Noten oder gar Lustlosigkeit. Alle drei erzählen von Mobbing ab der fünften Klasse. Lange dauerte es, bis sie sich ihren Eltern anvertrauten. Sie habe zunächst die Klasse gewechselt, erzählt Aniela. «Die Kinder hatten aber vor dem Wechsel mit denen aus meiner alten Klasse geredet und dann ging das Mobbing weiter.» Jetzt hoffen die drei auf einen Neustart an einer anderen Schule nach den Sommerferien.Lehrkräfte beobachten Anstieg von Schulabsentismus
Befragungen zufolge fehlen rund 3 bis 4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler immer wieder längere Zeit in der Schule. Statistische Daten gibt es kaum. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Robert Bosch Stiftung berichteten 26 Prozent der im September 2021 bundesweit befragten Lehrkräfte von einem Anstieg von Schulabsentismus seit dem Frühjahr 2020. An Schulen in sozialen Brennpunkten bejahten sogar 35 Prozent einen solchen Anstieg.
«Viele unserer Klienten haben in den vergangenen zwei Jahren Rückzugstendenzen entwickelt, sie sind sehr ungeübt im Austragen von Konflikten», sagt Thor. Einige halten es nicht mehr mit 30 Kindern in einem Raum aus. Für Menschen mit sozialen Phobien ist Schule ein schwer zu ertragender Ort.
Es sei weit mehr Personal notwendig, um nach zwei Jahren Pandemie auf Lernrückstände oder auf die psychischen Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler einzugehen, sagt der Leiter der Fachstelle Schulvermeidung. Den Lehrkräften will er keinen Vorwurf machen: «Sie müssen Noten produzieren, Leistungen bewerten, das ist ihr Hauptgeschäft, das fordert das Bildungssystem.»Bussgeldverfahren gegen Erziehungsberechtigte möglich
In Deutschland herrscht Schulpflicht, deshalb sind bei unentschuldigtem längeren Fernbleiben vom Unterricht Bussgeldverfahren gegen die Erziehungsberechtigten einzuleiten. Allerdings galt dies in Niedersachsen nicht für das Homeschooling im Jahr 2020. Als die Schulen coronabedingt für Monate geschlossen waren, verloren Lehrkräfte den Kontakt zu einzelnen Schülerinnen und Schülern, die bei Videokonferenzen fehlten oder Aufgaben nicht erledigten.
Die Schulen gehen nach Thors Beobachtung höchst unterschiedlich mit Jugendlichen um, die immer wieder lange fehlen. Aus Sicht des Sozialpädagogen ist es fatal, ihnen zu signalisieren: «Ihr könnt nach Corona ruhig langsam aus der Deckung kommen.» Notwendig seien verbindliche Vereinbarungen.