Migros & Co.: Firmen verlangen Bewerbungsvideos – «kann abschrecken»
Früher schickte man sein schriftliches Bewerbungsdossier per Post. Heute verlangen einige Firmen gar ein Video – davon hält ein HR-Experte gar nichts.
Das Wichtigste in Kürze
- Einige Firmen verlangen direkt bei der Bewerbung oder im Bewerbungsprozess ein Video.
- Der Trend ist aber bereits wieder abgeflacht – offenbar kommt das nicht gut an.
- Auch ein HR-Experte hält nichts davon. Vor allem während Zeiten des Fachkräftemangels.
Für Introvertierte ist es eine Horror-Vorstellung: Vor der Kamera sprechen, um sich beim hoffentlich zukünftigen Arbeitgeber beliebt zu machen. Doch genau das verlangen einige Schweizer Firmen.
Die Idee dahinter ist, die Personen schon vor dem ersten Treffen besser kennenzulernen. Unnötig, findet ein Fachmann. Und ist wenig erstaunt darüber, dass sich der Trend schon wieder abschwächt.
Ein Grund: Noch immer herrscht in diversen Branchen Fachkräftemangel. «Es fehlen auf allen Stufen qualifizierte Arbeitnehmende», erklärt der Zuger HR-Experte Alexander Beck von Beck Human Resources Consulting. «Das heisst, ich muss mich als Arbeitgeber dem Arbeitsmarkt anpassen.»
Jobs mit viel Kundenkontakt verlangen häufiger Videos
Trotzdem setzen einige auf Videos – besonders in Branchen, in denen es viel Kundenkontakt gibt, beobachtet Beck. «Oder auch bei Jobs, wo das Erscheinungsbild und Auftritts- und Sprachkompetenzen zentral sind.» Also Berufe im Dienstleistungs- und Beratungsumfeld.
Nau.ch hat bei mehreren grossen Arbeitgebern nachgefragt, wie sie es mit Videos im Bewerbungsprozess handhaben. Das Ergebnis: Tatsächlich setzen sie viele ein – teils auf freiwilliger Basis, bei anderen sind sie gar obligatorisch.
Zum Beispiel je nach Stelle bei Nestlé. «Wir setzen manchmal Videobewerbungen in der ersten Phase des Bewerbungsprozesses ein», bestätigt eine Sprecherin auf Anfrage. «Und zwar, wenn wir finden, dass sie für den Bewerber und für unser Rekrutierungsteam einen Mehrwert darstellen.»
Lehrlinge müssen sich bei Swisscom mit Video bewerben
Auch bei der Swisscom gibt es obligatorische Videos im Bewerbungsprozess – allerdings nur für Lehrstellen. Mit dem Pilotprojekt wolle die Swisscom «effizienter» passende Lernende finden.
Zum Einsatz kommen Videos auch, wenn man sich bei der Migros bewirbt. «Wir machen zeitversetzte Interviews», erklärt Sprecherin Carmen Hefti. «Das heisst: Wir stellen Fragen per Video. Der Kandidat hat beispielsweise eine Woche Zeit, um seine Antworten per Video einzureichen.»
Konkurrent Coop setzt nur im Lehrlings-Bewerbungsprozess auf Kameras. Die SBB führt wie die Migros teilweise zeitversetzte Videointerviews durch. Beim Technologieunternehmen ABB sind Videos im Bewerbungsprozess immer optional. Gar keine Videos verlangen zum Beispiel Novartis, die Axa Versicherung und Google Schweiz.
Firmen müssen sich bewerben – «nicht umgekehrt»
Gut so, findet HR-Experte Alexander Beck. Er hält Bewerbervideos im Auswahlprozess für «nicht angemessen». Und mahnt, dass solche Anforderungen «zurückhaltende und introvertierte, aber kompetente Bewerberinnen und Bewerber abschrecken können». Zudem würden subjektive Eindrücke aus einer «gestellten Situation heraus» entstehen.
«Im Zeitalter der digitalen Kommunikationstools wie Zoom oder MS-Teams erübrigt sich das», meint er. Durch Onlinegespräche erhalte man als Arbeitgeber genug Anhaltspunkte, wie ein Bewerber auftritt, argumentiert und sich ausdrückt.
Was laut dem Berater auch dagegen spricht: «Es herrscht weiterhin ein Arbeitnehmermarkt. Das heisst, etwas pointiert, dass Unternehmen sich bei potenziellen Interessenten bewerben müssen. Nicht umgekehrt.»
Da sei es wichtig, den Aufwand für Bewerberinnen und Bewerber möglichst tief zu halten. «Studien zeigen: Die Absprungrate nimmt stark zu, wenn man mehr als drei Schritte im Onlinebewerbungsprozess durchlaufen muss.»
Deshalb rät Beck Arbeitgebern davon ab, Videos explizit zu verlangen. Besser findet er eine Kombination aus Online-Kommunikation und persönlichem Kennenlernen. «Das hat sich bewährt.»