Ein «Mini-Me» muss her – dabei gibt es Tausende Heimkinder!
Ein «Mini-Me» müsse kreiert werden, weil andere ja nur solche Ausschussware produzieren. Kolumnistin Verena Brunschweiger kritisiert die Mentalität von Eltern.
Das Wichtigste in Kürze
- Die deutsche Autorin Verena Brunschweiger ist «kinderfrei».
- Auf Nau.ch schreibt Brunschweiger regelmässig Kolumnen.
«Adopt, don't breed!» (Adoptieren, nicht züchten!) ist ein im angloamerikanischen Sprachraum beliebter Slogan, der in erster Linie auf Haustiere Anwendung findet. Immer mehr aber auch auf menschlichen Nachwuchs.
In der Tat drängt sich die Frage auf, warum Paare selber ein Kind erschaffen, wenn es doch schon so viele Kinder gibt, die bereits existieren und sich über ein gutes Zuhause freuen würden.
Es gibt so viele Heimkinder
In der Schweiz, so schrieb mir ein seriöser Leser, gäbe es Heimkinder im vierstelligen Bereich. Aber zu wenig Interessierte, die solche Kinder bei sich aufzunehmen bereit wären.
Vielleicht hängt es damit zusammen, was mir eine Mutter mal zu diesem Thema servierte: Sie kaufe Klamotten ja auch nicht secondhand … Da schluckt man dann natürlich erst einmal!
Weitergeben der eigenen Gene
Aber nein, es geht natürlich nie um das Vererben der eigenen blauen Augen … Es ist schon auffällig, mit welcher Nonchalance Eltern dann doch gleich immer offenbaren, worum es ihnen eigentlich geht. Nämlich um das Weitergeben der eigenen Gene, um Blut und Boden.
Ein Mini-Me muss kreiert werden, weil andere ja nur solche Ausschussware produzieren – das ist leider viel zu oft die Mentalität von Eltern.
Der Papst steht parat – und aufgebrachte Eltern
Man muss zugeben, dass auch kinderfreie Menschen nicht immer Hunde und Katzen aus dem Tierheim zu sich holen. Allerdings belastet ein Haustier die Umwelt ungleich geringer als ein neuer Mensch. Und nur mal so am Rande bemerkt: Dass wir uns mitten im sechsten grossen Artensterben befinden, weil der Mensch sich immer mehr ausbreitet und die Umwelt dermassen zerstört, dass unzählige Tierarten ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, ist jetzt auch kein Kavaliersdelikt.
Ob es nun Hunde aus dem Shelter sind oder nicht: Sofort stehen aufgebrachte Eltern, und immer wieder auch der Papst, parat und posaunen selbstgerecht, die Kinderfreien würden das Tier ja nur als Kinderersatz halten.
Das mag bei ein paar Kinderlosen tatsächlich der Fall sein. Wie mir eine kinderfreie Leserin aus Wien aber schrieb, wäre für sie das Haustier geradezu das Anti-Kind. Weil ihr Hund all das bringt, was sie bei Menschen oft vermisst: bedingungslose Liebe, Treue und Ehrlichkeit.
Hund wird zum Universalerben
Auch der französische kinderfreie Autor Cédric Sapin-Defour schreibt in seinem Bestseller über seinen geliebten Hund Ubac, dass das Tier keinesfalls (Kind-)Ersatz ist. Und dass in der Gruppe, die aus seiner Partnerin Mathilde, ihm selbst und Ubac bestand, keine Blutsbande notwendig waren.
Er verweist zudem auf Schopenhauer, der seinen Hund zum Universalerben einsetzte, was in anderen Ländern übrigens bereits möglich ist. In der Schweiz und in Deutschland aber natürlich (noch?!) nicht.
Kinderfreie mit Hund in der Regel progressiv
Das Zauberhafte am Zusammenleben mit einem Tier ist ausserdem die Überwindung der Grenzen. Während das eigene Kind selbst gemacht ist, ist ein Hund eine andere Spezies. Das Tier stellt uns allein dadurch schon vor viel interessantere Herausforderungen als einfach einer der über acht Milliarden anderen Menschen.
Kinderfreie mit Hund sind in der Regel progressiv unterwegs und kümmern sich auch passend um das Tier. Wohingegen Leute, die Eltern werden, die Fellnase oft eklatant vernachlässigen, sobald das Baby da ist.
Manche setzen das Tier dann sogar aus. Oder aber sie schaffen ganz instrumentell einen Hund an, damit das kleine Kind an die frische Luft muss, jemanden zum Spielen hat, Verantwortung erlernen kann oder gar den Umgang mit Trauer lernt. Wenn das Tier stirbt – das ist Speziesismus in Reinstform.
Zu alt für einen Hund
Interessant, wie kein Mensch kritisiert, wenn Familien mit Kleinkindern Tiere anschaffen, wohingegen eine Siebzigjährige in Deutschland keinen Hund mehr bekam, weil das Tierheim der Ansicht war, sie wäre zu alt …
Da gibt es Hunde, die auch schon alt sind – sowieso nur acht Jahre alt werden?! Die durchschnittliche Deutsche wird zudem über 80?!
Wenn aber ein Achtzigjähriger sich fortpflanzt, das kritisiert dann niemand. Dabei könnte man auch da durchaus mal darauf hinweisen, was man einem Kind damit antut. Aber man sieht schon, wohin der Hase läuft: Eltern, Männer, das sind schützenswerte Wesen, kinderfreie Frauen, vor allem ältere, und Tiere eher weniger …
Mindestens drei Katzen als Kinderersatz
Die «Crazy Cat Lady» ist ein kultureller Archetyp, der seit J. D. Vances Attacken gegen US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und andere kinderfreie Frauen wieder vermehrt diskutiert wird.
Selbstbestimmte (ältere) Frauen ohne Kind, vielleicht sogar ohne Mann, vielleicht sogar lesbisch? Die müssen mindestens drei Katzen als Kinderersatz daheim haben, so der sexistische Subtext.
Katzen-Artikel boomen in den USA
Katzen in ihrer Eigenwilligkeit und Freiheitsliebe ähneln in der Tat diesen wunderbaren Kreaturen, die sich nicht einschränken lassen wollen und keine Lust haben, tagaus, tagein Mann und Kind hinterherzuräumen.
Nicht umsonst boomen in den USA gerade Katzen-Artikel wie Öhrchenhaarreifen oder BHs mit Katzen auf jedem Körbchen – und das nicht erst seit sich Taylor Swift als Crazy Cat Lady und Stevie Nicks als Crazy Dog Lady outeten.
Sich die Sache anzueignen und ins Positive zu wenden und nicht zuletzt die Tatsache zu betonen, dass für viele Menschen ein Hund oder eine Katze als Lebensbegleiter mehr Sinn macht als eigene Kinder, darum muss es gehen.
Denn: Familie, wenn man sie nicht gleich ganz abschaffen will wie die deutsch-britische Autorin Sophie Lewis, muss zumindest anders gedacht werden als das reaktionäre Vater-Mutter-Kind-Schema.
Familien bestehen auch aus zwei gleichgeschlechtlichen Elternteilen oder eben aus einem Mann und seinem Hund. Oder aus ihm, seiner Partnerin / seinem Partner und zwei Katzen.
Weg mit dem Anthropozentrismus (der Weltanschauung, die den Menschen als das wichtigste Wesen betrachtet)!
Zur Person: Dr. Verena E. Brunschweiger, Autorin, Aktivistin und Feministin, studierte Deutsch, Englisch und Philosophie/Ethik an der Universität Regensburg. 2019 schlug ihr Manifest «Kinderfrei statt kinderlos» ein und errang internationale Beachtung.