Warum brauche ich Djokovic als Sündenbock?
Was für eine Posse in Melbourne. Und viele freuen sich darüber, dass der eher ungeliebte Tennis-Star am Pranger steht. Gefährlich!
Das Wichtigste in Kürze
- Sam Urech aus dem Zürcher Oberland ist Halleluja-Kolumnist auf Nau.ch.
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Finde ich gut, was sich Novak Djokovic für Ausfälle leistet? Nein. Ist er mir sympathisch? Kenne ihn nur vom TV und wurde bisher kein Fan.
Dass ihn sein Vater dann auch noch mit Jesus Christus vergleicht und von einer Kreuzigung in Australien spricht, nervt mich.
Aber: Die Wut auf Djokovic geht zu weit. An ihm soll jetzt ein Exempel statuiert werden. Djokovic, der Sündenbock!
Wann immer Sündenböcke durch die Medien geschleift werden und sich alle Lauthälse beim Schimpfen einig sind, bin ich skeptisch.
Theatralische Härte im Wahljahr
Djokovic ist nicht wirklich ein Sympathieträger. Wie gemalt für australische Politiker, den Frust der Lockdown-geplagten Bevölkerung aufzunehmen und im Wahljahr zu punkten.
Hintergrund: Australien wollte Corona zuerst auf Null reduzieren, was bedeutete, dass eine Handvoll Covid-Fälle ausreichte, Millionen in den harten Lockdown zu schicken.
In Melbourne galt 262 Tage lang die Ausgangssperre. Bürger, die sich im Ausland aufhielten, konnten nicht mehr nach Hause. Aus Angst vor dem Tod hörte Australien auf zu leben?
Ist Djokovic daran schuld? Natürlich nicht. Aber den Volkszorn nun über einen esoterisch angehauchten Ungeimpften zu stülpen, kommt wunderbar gelegen. Eben, ein Sündenbock.
Schadenfreude schadet mir
In meinem Leben ist es so, dass ich mir meist dann einen Sündenbock wünsche, wenn ich gerade selbst von der Unruhe getrieben werde.
Wenn ich zum Beispiel auf andere zornig bin oder auf mich, weil ich gegen etwas zu wenig ankämpfte, mich zu wenig für mich einsetzte und zu kurz komme.
Nimmt sich dann eine Person ein Recht hinaus, das ich nicht habe, freue ich mich hämisch darüber, wenn sie scheitert. Menschlich.
Das Problem an meiner Schadenfreude ist, dass sie meinen Fokus auf die Fehler von anderen lenkt – statt dass ich hingucke, warum ich selbst so unruhig bin.
Eine eindrückliche Sündenbock-Geschichte steht in der Bibel: Da erwischte man ein Paar in flagranti beim ausserehelichen Sex. Der Mann? «Egal!» Die Frau? «Sofort steinigen!»
Ist oft so: Als Sündenbock sucht man nicht zwingend jeden Haupttäter, sondern gerne solche, die sich gerade gut für den Volkszorn eignen.
Nun wollte die aufgebrachte Menge die Ehebrecherin bis zum Tod mit Steinen bewerfen. Sie fragten vorher noch Jesus, was er dazu meine.
Jesus blieb ganz cool, sagte: «Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie!» Als die Menschen das hörten, zog einer nach dem anderen davon.
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Zum Autor:
Sam Urech ist 37-jährig, verheiratet und Vater von zwei Buben. Mit seiner Familie besucht er die Freikirche FEG Wetzikon. Sam ist selbständiger Kommunikationsberater.