Coronavirus: Kantone wollen Entscheidungsmacht nicht abgeben
Waadt hat diese Woche nach massivem Anstieg der Fallzahlen des Coronavirus durchgegriffen. Muss der Bund schneller einschreiten? Nein, finden die Kantone.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Waadtland entwickelte sich in den letzten Wochen zum Corona-Hotspot.
- Nach längerem Abwarten hat der Kanton diese Woche verschärfte Massnahmen beschlossen.
- Einen Grenzwert für kantonale Massnahmen wehren die Kantone ab.
Ein neuer Kanton hat sich zum Corona-Hotspot der Schweiz gemausert. Ein Drittel aller registrierten Fälle des Coronavirus in der Schweiz fallen auf den einen Kanton. Trotzdem blieb die Regierung lange untätig, verschärfte erst am Dienstag die Massnahmen wie die erweiterte Maskenpflicht.
Man orientiere sich nicht an anderen Kantonen, stellte Regierungspräsidentin Nuria Gorrite an der Pressekonferenz klar. Auch wenn Nachbar Genf die Clubs schloss, nachdem viele Infektionen auf das Nachtleben zurückgeführt werden konnten. Nachweisen konnte das auch die Waadt, liess die Clubber aber weiter tanzen.
Lässt der Bund die Kantone zu lange Däumchen drehen?
Gewiss war der Kanton Waadt einer der ersten Kantone, welcher eine Maskenpflicht in Läden einführte. Doch die Fallzahlen liess man noch oben schnellen, ohne weitere Massnahmen zu ergreifen.
Und registriert ein Kanton derart explodierende Fallzahlen, ist das Überschwappen in andere Kantone nur eine Frage der Zeit. Stellt sich die Frage: Braucht es einen Grenzwert für schärfere Massnahmen? Österreich verfolgt dieses Modell seit rund zwei Wochen mithilfe eines Ampelsystems.
Martin Steiger, Anwalt für Datenschutzrecht, sieht hier durchaus Möglichkeiten eines Einschreitens des Bundes, ohne den Föderalismus auszuschalten. Steiger glaubt: «Die Kantone haben vom Bund viele Kompetenzen zurückgefordert. Und sind nun offensichtlich überfordert.»
Dennoch habe der Bund auch in dieser «besonderen Lage» immer noch viele Kompetenzen gemäss Epidemiengesetz. «Im Wesentlichen müsste der Bund die Kantone anhören, bevor er Massnahmen im eigenen Ermessen anordnet.»
Doch offenbar hielten es der Bundesrat, BAG und weitere beteiligte Behörden «nicht für opportun, diese Kompetenzen zu nutzen», bemängelt Steiger.
Bund und Kantone würden wohl nicht damit rechnen, «für das eigene Verhalten jemals zur Verantwortung gezogen zu werden».
Kantone verteidigen Eigenverantwortung bei Bewältigung des Coronavirus
Es gibt zwar kantonale Systeme eines Alarmstufenkonzeptes, so etwa im Kanton Zug. Dieser kumuliert die Fallzahlen der jeweils letzten sieben Tage und die Veränderung im Vergleich zu den vorangegangenen sieben Tagen.
Je nach Neuinfektionszahlen des Coronavirus gilt die Stufe grün, orange gelb oder rot. Letztere tritt bei 75 Fällen auf 100'000 Einwohner und einer Fallzunahme von über 20 Prozent ein.
Nur werden bei einer neuen Stufen-Farbe nicht automatisch Massnahmen verschärft. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren GDK beobachtet das Modell genau. Sprecher Tobias Bär: «Bund und Kantone haben bis jetzt bewusst auf gesamtschweizerische Ampel- oder Grenzwertsysteme verzichtet.»
Eine feste Reihenfolge der Massnahmen bei einer allfälligen Verschärfung der Situation lasse sich nicht festlegen. Aus Sicht der GDK könne ein Kanton damit nicht genug auf lokale oder regionale Begebenheiten reagieren.
Daher mache ein vom Bund festgelegter Richtwert, ab welcher Anzahl Infektionen pro 100'000 Einwohner eine Massnahme verschärft werde, wenig Sinn. Die GDK empfiehlt den Kantonen lediglich Massnahmen, die zur Eindämmung von Hotspots des Coronavirus dienen.
«Die Kantone sollen wie bisher jene Massnahmen ergreifen, die sie aufgrund ihrer Einschätzung und Betroffenheit für angezeigt halten.» Sprich: Die Kantone sollen die alleinige Entscheidungsmacht behalten.