Grippe: Trotz vielen Meldungen ist Epidemie unwahrscheinlich
Die Zahl der Grippe-Verdachtsfälle erreicht theoretisch bereits Epidemie-Niveau. Für einmal ist dies kein Grund zur Sorge – im Gegenteil.
Das Wichtigste in Kürze
- Ausserordentlich viele Patienten suchen derzeit medizinische Hilfe wegen Grippe-Symptomen.
- Bei Stichproben konnte kein einziges Mal das Grippe-Virus nachgewiesen werden.
- Das entspricht den Erfahrungswerten für Oktober, könnte aber «dank» Corona so bleiben.
Alle Jahre wieder, zwischen Oktober und April, zeichnet das BAG den Verlauf der Grippe-Welle nach. Im Herbst zieht die Kurve jeweils langsam an und überschreitet um den Jahreswechsel herum den Schwellenwert für eine Epidemie. Dann geht die Post ab: Steil nach oben, im Januar/Februar der Spitzenwert, dann wieder steil nach unten. 2020 ist alles anders: Bereits jetzt wäre der Schwellenwert erreicht – wenn es denn einen gäbe.
Grippe-Epidemie ist abgesagt
Das BAG verzichtet auf die Definition eines Epidemie-Werts, weil dieser in der aktuellen Situation schlicht nicht berechenbar wäre. Ausschlaggebend ist die Erhebungsmethode Sentinella, die – für reguläre Jahre – möglichst simpel und günstig sein soll.
Sentinella-Ärzte melden freiwillig Konsultationen zu «grippeähnlichen Erkrankungen». Getestet werden die wenigsten, aber kombiniert mit anderen Informationen kann so die Anzahl solcher «Grippe»-Konsultationen hochgerechnet werden.
Das Coronavirus macht heuer aber einen Strich durch die Hochrechnung und lässt die Grippe-Kurve wilde Sprünge machen. Viel mehr Personen lassen ihren Husten oder erhöhte Temperatur medizinisch abklären. Der Sentinella-Wert lag entsprechend den zahlreicheren Meldungen durch die Ärzte diese Woche bereits bei 68.
Das ist ziemlich genau der Wert, wo auch der Epidemie-Wert liegen würde. Weil es diese Saison aber keinen Schwellenwert gibt, wird es de facto auch keine Grippe-Epidemie geben.
Keine Epidemie – und auch keine Grippe?
Das für die Grippe verantwortliche Influenza-Virus wird sich von einem rein technischen Entscheid ja kaum beeindrucken lassen. Findet die Epidemie trotzdem statt, aber keiner schaut hin, weil die Zahlen zwar hoch, aber nicht mehr hochrechenbar sind? Die ersten Erkenntnisse deuten darauf hin, dass dem nicht so ist.
Einerseits gehen Fachleute davon aus, dass die Corona-Pandemie einen angenehmen Nebeneffekt hat: Dank der Hygienemassnahmen gibt es auch weniger Grippe-Ansteckungen. Dazu verweist das BAG auf Erfahrungen in der gemässigten Zone der Südhalbkugel. Dort war während den letzten Monaten Winter und damit üblicherweise Grippesaison, trotzdem habe man keine Grippeepidemie verzeichnet.
Ich impfe mich gegen die saisonale Grippe 🦠. Und Sie? #Impfengegengrippe pic.twitter.com/CJdvfsKKKw
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) October 23, 2020
Kommt hinzu, dass der Aufruf des BAG, sich gegen Grippe zu impfen, auf grösseren Anklang stösst als in anderen Jahren. Damit soll primär die Überlastung der Gesundheitseinrichtungen verhindert werden, weil sich Grippe und Covid-19 anhand der Symptome kaum unterscheiden lassen.
Alles, nur nicht Grippe
Andererseits werden ausgewählte Patientenproben durchaus noch auf Viren getestet. Gesucht werden diejenigen Influenza-Subtypen und -linien, die auch von der aktuellen Impfung abgedeckt werden. In der aktuellen Woche entdeckte man so bei rund einem Zehntel statt dem Influenza- das Coronavirus. Weitere zwei Drittel waren «andere respiratorische Viren» wie die für Erkältung und Schnupfen verantwortlichen Rhinoviren.
Aber Influenza-B-Viren der Victoria-Linie, Yamagata-Linie oder unbestimmter Linie: Null. Influenza-A(H3N2) oder -A(H1N1) oder wenigstens sonst irgendein -A: Null.
Das ist an sich nicht überraschend für die Jahreszeit. Auch in anderen Jahren gab es im Oktober praktisch keine Influenza-Nachweise. Selbst zum Höhepunkt der Grippewelle findet man jeweils nur etwa in der Hälfte der eingesandten Grippeverdachtsfälle Influenzaviren.
Gesundheit!
Obwohl die Zahl der Arztbesuche wegen Grippe-Symptomen bereits riesig ist, ist die Grippe auch mit der Lupe nicht zu finden. Das BAG vermutet sogar, dass das auch so bleiben könnte. Die «Regel», dass mit zunehmenden Meldungen ans Sentinella-System auch die Grippe-Nachweise ansteigen, könnte wegen Covid-19 «möglicherweise diese Saison nicht gelten».
Die wenigen Grippefälle könnten den Grippeforschern auch noch durch die Lappen gehen, weil sie im Rahmen von Coronatests abgeklärt werden. Für die meisten Patienten gilt dann wohl: Wenn es nicht grad das Coronavirus ist, dann wars höchstens ein Pfnüsel. Oder statt dem Pandemie-Virus SARS-Cov-2 eines der vielen anderen Coronaviren, auf das nicht getestet wird. So wie in anderen Jahren auch schon.