SVP-Chef Marco Chiesa will lockern – aber nicht überall

Christof Vuille
Christof Vuille

Bern,

Die SVP bekämpft die Corona-Politik des Bundesrats. Doch bei Veranstaltungen gibt sich Marco Chiesa vorsichtig. Im Interview spricht der Parteichef Klartext.

Marco Chiesa SVP Coronavirus
SVP-Präsident Marco Chiesa spricht im Bundeshaus im Nau.ch-Interview Klartext über die Corona-Politik. - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • Die SVP fordert Corona-Lockerungen – aber nicht überall, wie Marco Chiesa verrät.
  • Der Tessiner befürwortet die Maskenpflicht in Ascona und will Massentests an der Grenze.
  • Im Interview nimmt der Parteipräsident auch Stellung zu den internen Querelen.

Nau.ch: Herr Chiesa, Ascona führt eine Maskenpflicht im Freien ein. Begrüssen Sie das als Tessiner?

Marco Chiesa: Ja, ich befürworte alle Massnahmen, die unsere Gesundheit schützen und gewisse Freiheiten zurückgeben. Wenn nun gerade über Ostern viele Menschen in Ascona das Leben geniessen wollen, kann eine zeitlich befristete Maskenpflicht im Freien Sinn machen. Allerdings nur dort, wo sich viele Menschen auf engem Raum befinden und den Abstand nicht einhalten können.

Ascona Maskenpflicht coronavirus
Auf dem Gemeindegebiet von Ascona gilt ab Mitte kommender Woche ein Maskenobligatorium im Freien. - Keystone

Nau.ch: Vor einem Jahr warnten Sie die Deutschschweizer davor, über Ostern ins Tessin zu fahren. Sind «wir» dieses Jahr willkommen?

Marco Chiesa: Absolut – solange Sie die Schutzmassnahmen befolgen, freue ich mich auf Besuch aus der Deutschschweiz. In der ersten Welle wussten wir nicht, wo genau die Probleme liegen. Heute weiss man viel besser, welche Situationen gefährlich sind und wer gefährdet ist. Dank Schutzkonzepten, den vielen immunen Leuten und jenen, die bereits geimpft sind, wird Ostern im Tessin kein grosses Problem darstellen.

Marco Chiesa Familie
SVP-Ständerat Marco Chiesa (TI) mit seiner Familie im Tessin. - Instagram

Nau.ch: Die SVP plädiert für weitgehende Lockerungen. Gleichzeitig befindet sich Italien teilweise wieder im Lockdown. Schauen Sie nie über die Grenze?

Marco Chiesa: Doch, sogar sehr genau. Italien hat gemacht, was wir auf keinen Fall machen dürfen. Es wurde ohne funktionierende Schutzkonzepte gelockert. Wir alle haben Bilder aus Mailand und anderen Städten gesehen: Die Schutz-Massnahmen wie Abstand und Masken wurden schlicht nicht mehr respektiert.

Coronavirus - Italien
Menschen sitzen in einem Café in Rom nachdem, die Corona-Massnahmen gelockert wurden. - dpa/ Cecilia Fabiano

Bei allem Verständnis für Corona-Müdigkeit braucht es nach wie vor Regeln. Das hat die SVP immer klar kommuniziert: Wir wollen lockern, aber unter strengen Schutzkonzepten. Das ist möglich, denn die Zahl der Kranken auf den Intensivstationen ist stark gesunken.

Nau.ch: Plädieren Sie wie im letzten Jahr für eine Schliessung der Grenze zu Italien?

Coronavirus Italien Grenzgänger Tessin
Täglich pendeln Zehntausende Grenzgänger von Italien ins Tessin zur Arbeit. - Keystone/epa

Marco Chiesa: Nein, eine Schliessung geht zu weit. Aber: Täglich strömen 70'000 Grenzgänger ins Tessin. Diese dürfen innerhalb Italiens kaum mehr reisen, denn die Lombardei ist eine «rote Zone». Dass sie einfach in die Schweiz kommen, ist ein riesiges Risiko. Deshalb braucht es konsequente Massentests an der Grenze und in den Unternehmen. Ich weiss, dass viele Firmen bereit sind, solche Tests durchzuführen. Ich hoffe, dass der Bundesrat endlich verbindliche Regeln erlässt.

Nau.ch: Die Fallzahlen steigen fast überall in der Schweiz an. Glauben Sie, dass diese plötzlich wie von Zauberhand wieder sinken?

Marco Chiesa: Nein, das wäre naiv. Es ist gut möglich, dass die Zahl der Neuansteckungen – gerade bei mehr Tests – weiter ansteigt. Aber: Das Ziel der Massnahmen war ja stets die Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Davon sind wir aktuell sehr weit entfernt. Das Durchschnittsalter der Corona-Toten beträgt 86 Jahre, viele sind in Altersheimen gestorben. Diese Risikogruppe ist mittlerweile zu grossen Teilen geimpft und die Schutzkonzepte sind viel besser als noch vor einigen Monaten.

Nau.ch: Dennoch dürften mit den von Ihnen geforderten Öffnungen mehr Menschen erkranken.

Marco Chiesa: Eine Null-Risiko-Strategie können wir uns zum jetzigen Zeitpunkt nicht leisten. Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben. Nach einem Jahr sollte das nun möglich sein. Ich nehme die Gefahr sehr ernst. Im Fokus darf aber nicht nur die Zahl der Neuinfektionen stehen. Aktuell stecken sich vor allem junge Menschen an, die meist einen sehr milden Verlauf haben. Für die Massnahmen sollte deshalb primär die Auslastung der Intensivstationen betrachtet werden. Und da sieht es ja sehr gut aus.

Soll der Bundesrat am Freitag weitere Lockerungen beschliessen?

Nau.ch: Morgen Freitag entscheidet der Bundesrat über die nächsten Lockerungsschritte. Sie möchten die Gastronomie auch im Innenbereich öffnen. Das ist doch fahrlässig.

schweizerisches bundesgericht
Die Gastronomie ist von den Corona-Massnahmen besonders stark betroffen. - dpa

Marco Chiesa: Die Gastro-Branche hat unzählige Millionen in Schutzkonzepte investiert. Nun muss sie seit Monaten als Sündenbock der Pandemie herhalten. Es kann doch nicht sein, dass private Grill-Partys mit 15 Personen erlaubt sind, aber das Essen an einem Vierer-Tisch mit Masken, Plexiglas und Contact-Tracing nicht. Es braucht nun subito eine Öffnung, sonst werden viele Restaurants und Bars nie mehr öffnen können.

Nau.ch: Der Bundesrat will Veranstaltungen mit 150 Personen an der frischen Luft wieder erlauben. Reicht Ihnen das?

Marco Chiesa: Hier bin ich sogar vorsichtiger als der Bundesrat. Ich denke, nun über Events zu sprechen, ist etwas verfrüht. Veranstaltungen mit 150 Personen auf einem Haufen empfinde ich aktuell als zu riskant. Denn gerade für das Contact Tracing wäre das eine sehr grosse Herausforderung. In Restaurants hingegen ist das Contact Tracing sehr einfach möglich.

Nau.ch: Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit die Impfkampagne bis im Sommer noch ein Erfolg wird?

Marco Chiesa: Die Kantone sind bereit, sie brauchen bloss den Stoff. Der fehlt, weil die Schweiz zu wenig davon gekauft hat. Doch wir müssen nach vorne schauen. Deshalb hoffe ich, dass Swissmedic und das BAG nicht auf Anfragen von Herstellern warten, sondern proaktiv vorgehen. Zum Beispiel sollte endlich der russische Impfstoff Sputnik geprüft werden.

Nau.ch: Ihre Partei pflegt seit Wochen einen aggressiven Stil. SVP-Politiker der Exekutive, also Bundesräte und Regierungsräte, wehren sich vehement dagegen. Distanzieren Sie sich von den Diktatur-Vorwürfen?

SVP Covid Debatte Berset
SVP-Nationalräte stehen Schlange, um Bundesrat Alain Berset kritische Fragen zu stellen. - Keystone

Marco Chiesa: In der ausserordentlichen Lage, wie wir sie im letzten Frühling hatten, ist es richtig, dass der Bundesrat schnell entscheiden kann, ohne auf spezielle Bedürfnisse einzugehen. Nun befinden wir uns aber seit langem in der besonderen Lage. Trotzdem regiert der Bundesrat im Alleingang. Er ignoriert in seinen Entscheiden die Position der Kantone, des Parlaments und der Wirtschaft. Insofern ist es durchaus legitim, die Schweiz aktuell als eine rechtliche Diktatur zu bezeichnen.

Nau.ch: Aber: Parlament und Stimmbevölkerung haben das Epidemiengesetz 2013 demokratisch beschlossen.

Marco Chiesa: Das ist richtig. Aber damals konnte kaum jemand abschätzen, was dieses Gesetz im Extremfall in der Realität anrichtet. Nun sind viele Grundrechte, welche in der Bundesverfassung verankert sind, komplett ausgehebelt. Zumindest in der besonderen Lage braucht es ein Gremium, welches die Macht der Landesregierung beschränken kann. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments den Bundesrat überwacht. Machtdemonstrationen wie die Schliessung der Ski-Terrassen darf es nicht mehr geben.

Nau.ch: Nochmals zur SVP: Diese Woche hat «ihr» Nationalratspräsident Andreas Aebi den eigenen Fraktionschef Thomas Aeschi für dessen aggressive Kritik an einer BAG-Mitarbeiterin öffentlich kritisiert. Haben Sie Ihre Partei und ihre Leute noch im Griff, Herr Chiesa?

Aebi Aeschi SVP
Andreas Aebi (SVP/BE) und Thomas Aeschi (SVP/ZG) im Gespräch im Nationalratssaal, März 2020. - Keystone

Marco Chiesa: Ja. SVPler wie Thomas Aeschi engagieren sich mit viel Herzblut in zentralen Fragen wie der Impfstoffbeschaffung. Wir besprechen uns jeden Tag. Zumal unsere Mandatsträger an ihre Funktion gebunden sind – die SVP- Bundes- und Regierungsräte halten sich an das Kollegialitätsprinzip. Und Andreas Aebi dient dieses Jahr primär als höchster Schweizer. Es ist unsere Stärke, dass wir unterschiedliche Persönlichkeiten in der SVP haben, die unterschiedlich kommunizieren. Marco, Magdalena, Thomas und die Berner müssen sich nicht gegenseitig kopieren.

Nau.ch: Sie sprechen «die Berner» selbst an. Diese grosse Sektion übt Druck auf Sie aus, den Ton der SVP zu mässigen.

Marco Chiesa: Als Ständerat habe ich mit dem Berner Ständerat und Kantonalpräsidenten Werner Salzmann eine sehr gute Beziehung. Und als Präsident ist es meine Aufgabe, Brücken zu bauen. Zentral scheint mir, dass wir inhaltlich praktisch nie irgendwelche Differenzen haben. Es geht höchstens um die Art und Weise, wie wir diese Inhalte kommunizieren.

Nau.ch: Zum Schluss Ihre Prognose: Wird der Bundesrat seine angekündigten Öffnungsschritte auf den nächsten Montag durchziehen?

SVP Marco Chiesa Petition
Marco Chiesa, Parteipräsident SVP, spricht vor einem Gessler-Hut, der Bundesrat Berset darstellen soll. - Keystone

Marco Chiesa: Davon gehe ich aus, ja. Das würde heissen: Restaurants dürfen ihre Terrassen öffnen, nicht aber die Innenräume. Für private Treffen zuhause wird die Personenlimite auf zehn Personen angehoben. Mutig ist das allerdings nicht. Bei den Veranstaltungen ist Zurückhaltung angesagt. In allen anderen Bereichen werden wir uns aber weiter für Öffnungen stark machen. Denn wenn wir gar keine Freiheit mehr haben, werden die Menschen sich nicht mehr an die Massnahmen halten – auch nicht an die, die sinnvoll und wichtig sind. Das wäre dann sowohl für die Wirtschaft und die Gesundheit fatal.

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