Experte: Der Nahostkonflikt nimmt eine «neue Dimension» an
Der Nahostkonflikt entflammt ein weiteres Mal. Doch diesmal ziehen wütende Mobs durch die Strassen Israels. Das ist neu, erklärt Nahost-Experte Erich Gysling.
Das Wichtigste in Kürze
- Der seit 70 Jahren schwelende Nahostkonflikt ist erneut ausgebrochen.
- Diesmal mischen auf beiden Seiten wütende Mobs mit.
- Die Demonstrationen in Europa beobachtet Nahost-Experte Erich Gyling besorgt.
Seit weit mehr als einem halben Jahrhundert schwelt der Nahostkonflikt. Spätestens seit der Gründung des Staats Israel streiten sich Juden und Moslems um das Heilige Land.
Die aktuellen kriegerischen Handlungen zwischen der Hamas und Israel sind nur das jüngste Kapitel in einer langen Reihe von Kämpfen. Doch die aktuelle Auseinandersetzung ist anders als vorherige: Nahost-Experte Erich Gysling warnt gegenüber Nau.ch vor einer «neuen Dimension» im Nahost-Konflikt.
Siedlungsbau als Auslöser
Gysling, der unter anderem als Auslandskorrespondent im Nahen Osten war, erklärt, dass der Siedlungsstreit am Anfang des aktuellen Konflikts stand: Seit Jahren ist der Siedlungsbau und die damit verbundene Niederlassung jüdischer Siedler zentraler Streitpunkt. Zuletzt erlaubte ein israelisches Gericht ein Siedlungsprojekt in Ostjerusalem. Als daraufhin im Rahmen einer Predigt in der Al-Aksa-Moschee Unruhen ausbrachen, drangen israelische Sicherheitskräfte in die Moschee ein.
Doch die Kettenreaktion war in Gang gesetzt: Die Hamas, die gewaltbereite Palästinenserorganisation, die im Gazastreifen an der Macht ist, reagierte auf den Affront der Sicherheitskräfte mit Raketenschlägen. Dies provozierte wiederum eine Reaktion der israelischen Armee. Seitdem sind bereits über 100 Menschen gestorben, die meisten von ihnen im Gazastreifen.
Wütende Mobs auf beiden Seiten
Der Konflikt zwischen der Hamas und Israel entflammt immer wieder in ähnlicher Art: Die Hamas nutzt Guerilla-Raketenangriffe, Israel versucht, diese zu unterbinden. Was dieses Mal anders ist: Der Konflikt wird nicht nur von den politischen Organen beider Seiten und ihren Armeen geführt. Wütende Mobs griffen auf beiden Seiten in das Geschehen ein.
Die israelische Stadt Lod kommt seit Tagen nicht zur Ruhe: Muslimische Bewohner Israels zogen randalierend durch die Strassen und beschädigten jüdisches Eigentum. In Bat Yam nahe Tel Aviv ging wiederum ein jüdischer rechtsnationaler Mob gegen Araber vor.
«Ein Konflikt auf jüdischem Boden zwischen arabischen und jüdischen Israelis – das ist eine neue Dimension», kommentiert Gysling. «Die israelischen Araber hielten sich bei früheren Konflikten mehrheitlich zurück.»
Proteste schwappen auf Europa über
Nicht nur in Israel leben Juden und Moslems zusammen – auch in Europa. Im deutschen Gelsenkirchen skandierten Demonstranten anlässlich der neuen Gewalt judenfeindliche Parolen vor der Synagoge. Gysling reagiert mit Unverständnis: «Das ist äusserst bedauerlich.»
«Wenn sich die Proteste gegen die Juden oder den Staat Israel im Allgemeinen richten, finde ich das höchst problematisch.» Kritik an gewisse Strategien der israelischen Regierung sei berechtigt. «Das Problem ist, dass viele finden, eine Kritik an der Vorgehensweise Israels gegenüber den Palästinensern ist eine Kritik am Staat Israel. Ich finde Vieles an Israel bewundernswert, aber man muss die Politik auch kritisieren dürfen.»
Was bei den Demonstrationen in Deutschland herausgekommen ist, sei dennoch höchst problematisch: «Die Demonstrationen fanden vor Synagogen statt. Wer vor einer Synagoge demonstriert, hat wahrscheinlich auch Ressentiments gegenüber der jüdischen Kultur.»
Aussöhnung rückt in immer weitere Ferne
Siebzig Jahre nach der Staatsgründung wird der Nahostkonflikt auch von der lokalen Bevölkerung immer emotionaler geführt. Dabei besteht zumindest auf dem Papier ein Lösungsansatz für den Konflikt: In den 90er Jahren unterzeichneten die Staatschefs beider Parteien die Oslo-Verträge – darin war eine Zweistaatenlösung skizziert.
Bald darauf brach der neu gewählte Benjamin Netanjahu mit dem Kurs seiner Vorgänger und beschleunigte den jüdischen Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten.
Die internationale Gemeinschaft hält zumindest auf dem Papier noch an einer Zweistaatenlösung fest. Der wichtigste Verbündete Israels, die USA, haben diese Haltung unter Donald Trump jedoch aufgegeben. Daran hat Joe Biden – auch angesichts der neuen Gewaltwelle – jedoch nichts geändert.
Gysing kommentiert: «Man muss mehr und mehr erkennen, dass die angestrebte Zweistaatenlösung wahrscheinlich nie realisiert werden kann.» Angesichts dessen schwindet auch die Hoffnung auf baldigen Frieden im Nahen Osten.